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Gehetzte Uhrmacher

Titel: Gehetzte Uhrmacher
Autoren: J Deaver
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egal war, ob es etwas auszusetzen gab. Vincent Reynolds hatte nicht viele Freunde und ließ sich von Gerald Duncan eine Menge gefallen. »Ich war bloß neugierig.«
    »Ich weiß. Ich habe lediglich nicht auf die Zeit geachtet. Beim nächsten Mal passe ich besser auf.«
    »Bei dem Mädchen? Morgen?« Vincents Herzschlag beschleunigte sich ein wenig.
    Er nickte. »Du meinst heute.«
    Es war nach Mitternacht. Bei Gerald Duncan musste man korrekt sein, vor allem hinsichtlich der Zeit.
    »Genau.«
    Der hungrige Vincent hatte den cleveren Vincent um eine Handbreit geschlagen, nun, da er an Joanne dachte, das Mädchen, das als Nächstes sterben würde.
    Heute ...
    Der Mörder fuhr in einem komplizierten Muster zurück zu ihrer vorläufigen Bleibe im Bezirk Chelsea, südlich von Midtown Manhattan, in der Nähe des Flusses. Die Gegend war menschenleer; die Temperatur lag bei minus zehn Grad, und ein gleichmäßiger Wind wehte durch die engen Straßen.
    Duncan hielt am Bordstein, schaltete den Motor aus und zog die Handbremse an. Die Männer stiegen aus. Dann gingen sie einen halben Block weit durch die eisige Brise. Duncan blickte auf den Schatten, den er im Mondschein auf den Bürgersteig warf. »Mir ist noch eine andere Antwort eingefallen. Auf die Frage, wie lange es gedauert hat, bis sie tot waren.«
    Vincent zitterte wieder – hauptsächlich, aber nicht nur wegen der Kälte.
    »Wenn man es von deren Standpunkt aus betrachtet, könnte man sagen, es hat bis in alle Ewigkeit gedauert«, sagte der Mörder.

... Zwei

    Was ist das? Der stämmige Mann saß auf seinem quietschenden Stuhl in dem warmen Büro, nippte an einem Kaffee, kniff im strahlenden Schein der Morgensonne die Augen zusammen und spähte zum anderen Ende des Piers. Er war der Leiter der Frühschicht des Schlepp- und Bergungsunternehmens am Ufer des Hudson River nördlich von Greenwich Village. In vierzig Minuten sollte ein Kahn mit defektem Dieselmotor anlegen, aber im Moment war noch nichts los, und der Mann genoss die Wärme der Hütte. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und hielt den Kaffeebecher dicht vor der Brust. Nun wischte er die beschlagene Scheibe frei und sah noch einmal hin.
    Was ist das?
    Am Rand des Piers, auf der Jersey zugewandten Seite, stand ein kleiner schwarzer Kasten. Als sie gestern um achtzehn Uhr Feierabend gemacht hatten, war das Ding noch nicht da gewesen, und danach hatte niemand mehr hier angelegt. Jemand an Land musste es dort abgestellt haben. Es gab einen Maschendrahtzaun, der Unbefugte vom Betreten des Firmengeländes abhalten sollte, aber wer hier reinwollte, kam auch rein, wusste der Mann. Nicht umsonst fehlten immer wieder mal Werkzeuge oder – allen Ernstes – Mülltonnen.
    Aber wieso sollte man hier etwas zurücklassen ?
    Er starrte eine Weile hinaus und grübelte. Draußen ist es kalt und windig, und der Kaffee ist genau richtig. Dann sagte er sich: Ach, zum Teufel, sieh lieber nach. Er zog sich seine dicke graue Jacke und Handschuhe an, setzte eine Mütze auf, trank einen letzten Schluck Kaffee und trat hinaus in die eisige Kälte, die ihm den Atem raubte.
    Der Mann kämpfte sich durch den Wind über den Pier und behielt die tränenden Augen auf den schwarzen Kasten gerichtet.
    Mist, was ist das? Das Ding war rechteckig und ungefähr dreißig
Zentimeter hoch; in irgendetwas an seiner Vorderseite spiegelte sich die tief stehende Sonne. Der Mann kniff geblendet die Augen zusammen. Unter ihm schlugen die schaumgekrönten Wellen des Hudson gegen die Stützpfeiler.
    Drei Meter vor dem Kasten blieb er stehen. Er erkannte nun, was es war.
    Eine Uhr. Eine altmodische Uhr mit diesen komischen Zahlen – römischen Ziffern – und einer Anzeige für die Mondphase. Sah teuer aus. Er schaute auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass der große Kasten funktionierte: Die Zeit stimmte überein. Wer würde denn ein solches Prachtexemplar hier abstellen? Ach, was soll’s – ich betrachte es einfach als Geschenk.
    Als er vortrat, um die Uhr aufzuheben, glitten ihm jedoch plötzlich die Beine weg, und voll jäher Panik glaubte er in den Fluss zu stürzen. Aber er fiel senkrecht zu Boden, genau auf die gefrorene Pfütze, die er übersehen hatte, und rutschte nicht weiter.
    Mit schmerzverzerrtem Gesicht mühte er sich keuchend wieder auf die Beine. Dann blickte er nach unten und sah, dass es sich nicht um gewöhnliches Eis handelte. Es war rötlich braun.
    »O mein Gott«, flüsterte er, als er die große Blutlache erkannte, die
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