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Gehen (German Edition)

Gehen (German Edition)

Titel: Gehen (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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dürfen, was um uns herum geschieht und geschehen ist und geschehen wird, wenn wir nicht die Kraft dazu haben, ein solches Nachdenken über das, was um uns herum geschieht und geschehen ist und geschehen wird, also über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, genau in dem Augenblick abzubrechen, in welchem dieses Nachdenken für uns tödlich ist. Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst, sagt Oehler, das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. Wir können aber diesen tödlichen Augenblick ganz bewußt hinausziehen, sagt Oehler, mehr oder weniger lang, je nachdem. Darauf kommt es an, daß wir wissen, wann der tödliche Augenblick ist. Aber niemand weiß, wann der tödliche Augenblick ist, sagt Oehler. Die Frage ist nicht, daß ich weiß, wann der tödliche Augenblick ist, die Frage ist, kann es sein, daß der tödliche Augenblick noch nicht und dann immer wieder noch nicht ist?, worauf wir uns aber nicht verlassen können. Wir dürfen niemals denken, sagt Oehler, wie und warum wir tun, was wir tun, weil wir dann, wenn schon nicht augenblicklich nichts, so doch augenblicklich genau in dem Grade des Bewußtseins über diese Frage zu vollkommener Untätigkeit und zu vollkommener Unbeweglichkeit verurteilt wären. Denn der klarste Gedanke,der, welcher die tiefste, gleichzeitig klarste Durchschaubarkeit ist, ist die vollkommenste Untätigkeit und die vollkommenste Unbeweglichkeit, sagt Oehler. Wir dürfen nicht denken, warum wir gehen, sagt Oehler, denn dann wäre es uns bald nicht mehr möglich, zu gehen und konsequent weiter, wäre uns bald überhaupt nichts mehr möglich, wie auch, wenn wir denken, warum wir nicht denken dürfen, warum wir gehen und so fort, wie wir auch nicht denken dürfen, wie wir gehen, wie wir nicht gehen, also stehen, wie wir nicht denken dürfen, wie wir, wenn wir nicht gehen und stehen, denken und so fort. Wir dürfen uns nicht fragen: warum gehen wir?, wie andere, die sich ohne weiteres fragen dürfen (und können), warum sie gehen. Die anderen, sagt Oehler, dürfen (können) sich alles fragen, wir dürfen uns nichts fragen. Handelt es sich um Gegenstände, dürfen wir uns genauso nicht fragen, wie wenn es sich nicht um Gegenstände (um das Gegenteil der Gegenstände) handelt. Was wir sehen, denken wir und sehen es folglich nicht, sagt Oehler, während andere ohne weiteres, was sie sehen, sehen, weil sie, was sie sehen, nicht denken. Was wir Anschauung nennen, ist für uns im Grunde Stillstand, Bewegungslosigkeit, nichts, Nichts. Das Geschehene ist gedacht, nicht gesehen, sagt Oehler. So sehen wir ganz natürlich, wenn wir sehen, nichts, denken gleichzeitig alles. Plötzlich sagt Oehler, wenn wir Karrer in Steinhof besuchten, wären wir wahrscheinlich genauso erschrocken, wie vor acht Jahren, aber jetzt sei die Verrücktheit Karrers tatsächlich nicht nur eine viel schlimmere als seine Verrücktheit vor acht Jahren, sondern eine endgültige, und wenn wir denken, wie erschrocken wir vor acht Jahren während unseres Besuchs bei Karrer gewesen sind, ist es unsinnig auch nur einen einzigen Augenblick daran zu denken, jetzt wo es sich bei Karrers Verfassung tatsächlich um eine fürchterliche handle, Karrer zu besuchen. Wahrscheinlich darf Karrer gar keine Besuche empfangen, sagt Oehler. Karrer sei im Pavillon VII untergebracht, in dem gefürchtetsten. Diese entsetzlichenKerker, in welche man die bedauernswertesten aller Geschöpfe einsperrt, sagt Oehler. Nichts als Schmutz und Gestank. Alles verrostet und verfault. Wir hören das Unglaublichste. Wir sehen das Unglaublichste. Oehler sagt: Die Welt des Karrer aber ist in gleichem Maße, wie sie seine Welt ist, die unsrige. Genausogut, sagt Oehler, könnte ich jetzt hier mit Karrer durch die Klosterneuburgerstraße gehen und mit Karrer über Sie reden, wenn sich die Sache so verhielte, daß nicht Karrer, sondern Sie im Augenblick in Steinhof wären, oder der Fall wäre eingetreten, daß sie mich nach Steinhof eingeliefert und mich in Steinhof interniert haben und Sie gehen mit Karrer durch die Klosterneuburgerstraße und reden über mich. Wir sind nicht sicher, ob wir nicht im nächsten Augenblick in die Situation kommen, in welcher sich der befindet, über welchen wir reden und welcher der Gegenstand unseres Denkens und unseres Diskutierens ist. Genausogut hätte ich in dem rustenschacherschen Laden verrückt werden können, sagt Oehler, wenn ich an dem Tag in der Verfassung Karrers in den rustenschacherschen Laden gegangen wäre,
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