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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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redete und redete, vielleicht ist er auf Koks, dachte Grün und sagte, danke, du bist ein echter Freund, interessant, Röhricht, das Schwein, heute abend war ich noch mit ihm essen. Plötzlich hörte das Gespräch auf. Grün wollte sich die Nummer des Anrufers ansehen, aber die Nummer war unterdrückt. Ist das wirklich Blinker gewesen?
    Es fängt an, dachte Grün. Die Kombattanten beziehen ihre Startpositionen. Die Truppen sortieren sich. Ich pokere auf eine Abfindung, ich kann sie unter Druck setzen, ich kann damit drohen, dass ich sofort hinschmeiße. Er war müde. Er wollte nach Hause. Die Frau sagte leise: »Bleib bei mir, schlaf hier, bleib wenigstens noch eine Viertelstunde.«
    Grün sagte: »Meine Tochter ist krank, du, das war eben das Krankenhaus, ich muss sofort hin.« Er war stolz auf diese Idee, kranke Kinder waren wahrscheinlich das beste Argument bei Singlefrauen, Kinder, da kennen sie sich nicht aus, da haben sie Respekt.
    »Seit wann hast du denn eine Tochter«, sagte die Frau. »Wie alt ist sie denn?«
    Das sei eine lange Geschichte, sagte Grün, er habe es furchtbar eilig. Er gab der Frau seine private Handynummer. Vielleicht war das ein Fehler, aber sie wollte die Nummer haben, und Grün hatte nicht die Kraft zu einer Diskussion.
    Draußen wurde es allmählich Morgen. Grün ging in der Straßenmitte, auf der Markierung. Keine Autos. Vogelgezwitscher. Das ist schön, dachte Grün. So schön. Vier Uhr. Die Schlacht beginnt.
    Wie hieß die Frau? Er hatte ihren Nachnamen, er würde herausfinden, wer sie war. Grün suchte in seinen Taschen nach dem Zettel, den sie ihm gegeben hatte. Er hatte den Zettel nicht mehr. Grün setzte sich auf den Bordstein und lehnte sich gegen einen Baum, die leere Straße lag vor ihm wie eine Bühne, sie fiel sanft ab, weiter unten blinkten die Ampeln. Wie auf einem Berggipfel, dachte Grün. Dann schlief er langsam ein.

21
     
    Gerster suchte, obwohl das alles nun schon Jahre zurücklag, immer noch die Orte auf, an denen sie sich regelmäßig getroffen hatten, in der Hoffnung, N. zu sehen. Drei- oder viermal pro Woche, sooft er konnte, saß er in der Bar am Kanalufer, in der sie manchmal gemeinsam gewesen waren, und trank dort unter den neugierigen Blicken des jugendlichen Publikums schlechten Wein und selbst gemachten Holunderfusel. Er war immer allein dort. Aber sie kam nicht. Sie ging jetzt woandershin, mit anderen.
    Was würde er tun, sollte sie tatsächlich auftauchen? Würde er sich verstecken, sie nur von ferne beobachten? Würde er zu ihr gehen? Würde er freundlich winken, dann die Bar verlassen? Wäre er distanziert, kumpelhaft, beleidigt, ein schlechter oder ein guter Verlierer? Er wusste es nicht.
    N. hatte gesagt, sie sollten Freunde bleiben. Das Übliche. Gescheiterte Liebe galt als idealer Dünger für eine schöne Freundschaft. Wenn sich die Sache in Freundschaft verwandeln lässt, wo, fragte sich Gerster, steckte dann das Problem? Eigentlich käme dann als Trennungsgrund nur schlechter Sex infrage. Aber gerade das klappte angeblich oft bis zum Schluss.
    N. hatte gesagt, sie melde sich im Frühling. Ruf mich nicht an, warte auf den Frühling, dann geht es irgendwie weiter, freundschaftlich, mal sehen, wart’s ab. Das waren die Worte.
    Der Sommer ging zu Ende. Wieder einer. Ihre Wunden waren vermutlich geheilt. Der Zyklus beginnt von Neuem, ein neuer Gerster wird ihre Füße streicheln und sie zum Lachen bringen, ein neuer Gerster verglüht an ihrem Himmel. Er rechnete jetzt nicht mehr damit, dass eine Nachricht von ihr in seinem Briefkasten lag, sein Herz klopfte nicht mehr, wenn spätabends das Telefon klingelte. Aber er war nicht geheilt. Immer noch folgte er auf der Straße hin und wieder Frauen, die ihn von ferne an N. erinnerten. Aber selbst wenn sie es tatsächlich wäre, würde sie doch längst eine andere sein.
    Manchmal sprach er mit N., in seiner Phantasie. Er erzählte ihr von seinem Tag, hörte ihre Meinung, stellte Fragen und bekam auch Antworten. Er erzählte ihr von ihrer gemeinsamen Geschichte, jedes Mal klang die Geschichte ein wenig anders.
    Es gab Tage, an denen Gerster sich schämte, es gab Tage, an denen er N. hasste. Immer wieder spulte er den Film zurück, um die Stelle zu finden, falls es sie gab, an der sein entscheidender Fehler zu sehen war. Manchmal stellte er sich N. als eine dieser Mathematikaufgaben vor, zu denen die besten Köpfe seit Jahrzehnten keine Lösung finden. Jetzt, in dieser Phase, löste sich ihr Bild allmählich
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