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Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Titel: Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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wieder zu Kräften gekommen war.
    Er hatte das Haus, das sein Vater zusammengeschustert hatte, geerbt. Dafür musste er seine fünfzehn Geschwister auszahlen. Für sechs Pfennige die Stunde verdingte er sich in der ortsansässigen Rasierklingenfabrik. Auch meine Mutter hatte sich dort bis zur Geburt von Sieglinde, meiner vier Jahre älteren Schwester, krumm geschuftet, um die Schulden an Schwägerinnen und Schwäger abzuarbeiten. Die Geburt ihrer Töchter erlöste Karoline vom Alltag in der Fabrik, von den verächtlichen Blicken der Vorarbeiterin, stürzte sie aber in ein anderes, wesentlich härteres Schicksal: Das Schicksal einer Mutter, die ihre Kinder nicht lieben, nicht ernähren, nicht aufblühen lassen kann. Sicher liebte sie uns, Sieglinde und mich, aber auf ihre Art. Zeigen konnte sie es nur mit einem gequälten Lächeln, dann und wann. Ansonsten wurde ihr Rücken noch krummer, ihr Gesicht noch abweisender, und sie selbst unnahbarer als je zuvor: für ihren Mann und für uns Kinder gleichermaßen.
    Um ihr Überleben zu sichern, bauten meine Eltern sich eine kleine Landwirtschaft auf, die neben der Fabrikarbeit und dem Haushalt auch noch bewältigt werden musste.
    Mit uns unter einem Dach hausten in Scheune und Stall eine Kuh, zwei Ziegen, acht Hennen, ein Gockel und ein Schwein. Alles Mäuler und Schnäbel, die gestopft werden mussten, mit Nahrung, die wir uns vom Munde absparen mussten. Wir hungerten während des Krieges und auch noch Jahre danach, ganz einfach weil wir es gar nicht anders kannten. Das quälende nagende Hungergefühl war während meiner gesamten Kindheit gegenwärtig, es wurde zur fixen Idee. Ständig malte ich mir aus, wie ich es anstellen könnte, auf allen vieren unbeobachtet zum Schweinetrog zu kriechen und die Kartoffelschalen und Brotrinden darin heimlich aufzuessen. Aber ich hätte Schläge dafür bekommen, harte kalte Schläge mit dem Gürtel oder dem Schürhaken, auf das nackte Gesäß, und das stand dann letztlich nicht dafür. An den beißenden Hunger konnte ich mich eher gewöhnen als an die Schläge, die eine zusätzliche Demütigung bedeuteten.
    Meine Mutter fühlte sich im hintersten Winkel unseres Tals von der Welt isoliert. Sie hätte ins Dorf gehen können, die vier Kilometer am Fluss entlang über den Waldweg nach Glatten, aber was sollte sie da? Zu kaufen gab es nichts – nur knapp rationierte Lebensmittelmarken –, und verspotten lassen musste sie sich sonntags sowieso.
    Der Hohn und Spott der übrigen Dorfbewohner, der uns entgegenschlug, wenn wir armen Bauern in unseren zerschlissenen, notdürftig zusammengeflickten Nachkriegsfähnchen zur Kirche gingen – ausgezehrt und apatisch mein Vater, das Gesicht unter einem schwarzen Hut versteckt meine Mutter und barfuß wir Kinder –, hallt mir noch heute in den Ohren.

3
    Als draußen Schritte über den Flur hallten, spähte ich neugierig auf den Gang hinaus. Wenn das nicht »J. Bruns« war! Hoffentlich war die Neue nett! Ich sah blank geputzte Halbschuhe, die sich im Linoleum spiegelten, und dachte: Das ist ja ein Mann! Ein schmaler, hochgewachsener Mann mit kurzen dunkelbraunen Haaren, Jeans und Lederjacke hielt eine halb gefüllte Reisetasche in der Hand und blieb zögernd vor der Nachbartür stehen.
    Suchend sah er sich um. Er wirkte wie alle Menschen, die Neuland betreten: unschlüssig und ein kleines bisschen verlegen.
    »Ja, hier sind Sie richtig, Herr Bruns!« Die Nachtschwester eilte mit quietschenden Gummischuhen herbei und öffnete einladend die Tür. »Bitte schön, Herr Bruns. Ich hoffe, das Zimmer gefällt Ihnen!«
    »Ja, danke«, hörte ich den Mann mit einer angenehm ruhigen Stimme sagen. »Es ist sehr hübsch und sauber.« Er schien ein genügsamer Typ zu sein, denn Luxussuiten waren unsere Kemenaten wirklich nicht. Praktisch, quadratisch, weiß und steril, aber was das Wichtigste war: ruhig. Hier draußen am Waldrand sagten sich buchstäblich Fuchs und Hase Gute Nacht, und die nächste Großstadt mit ihren Blechlawinen, klingelnden Straßenbahnen, aufdringlichen Leuchtreklamen und den gestressten Menschenmassen war meilenweit weg. Auch mein Reutlingen. Kurz bekam ich heftige Sehnsucht nach meinen beiden Jungs. Aber Bernd und Thomas waren bei meiner Freundin Gitta und ihrem Mann Walter in besten Händen. Ich wusste, ich musste das hier durchstehen, um wieder zu Kräften zu kommen, denn sonst würde ich über kurz oder lang wieder zusammenklappen.
    »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass Sie hier
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