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Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Titel: Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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Leben!«
    Da hatte er weiß Gott nicht unrecht.
    In dem Sommer, in dem ich gerade fünf geworden war, hockten wir Mädchen auf dem voll beladenen Leiterwagen, der ächzend den Waldweg hinaufrumpelte. Unter unseren stelzendünnen braun gebrannten Beinen pikste uns unsere bescheidene Ernte von den Feldern weiter unten hinter dem Dorf, die mein Vater gepachtet hatte. Es waren die unfruchtbarsten, abschüssigsten und steinigsten Felder weit und breit, sodass mein Vater sie sich gerade noch leisten konnte. Unsere Kuh Liesel schleppte die Last schnaubend über Geröll und Wurzelwerk. Vorn auf dem Kutschbock hockte zusammengesunken der Vater, vielleicht war er in einen Sekundenschlaf gefallen. Er war immer müde, konnte im Stehen schlafen und, wie die Mutter höhnte, sogar im Gehen. Hatte er seine großen glasigen Augen geschlossen, sah er aus wie ein alter knorriger Baum. Die Mutter ging mit einem Stock in der Hand neben der Kuh her und schlug auf ihr mit Kot verklebtes Hinterteil, sobald sie ihr zu langsam wurde. Dann schlug die Kuh mit dem Schwanz, und ein Pulk schillernder Schmeißfliegen flog auf.
    Am Wegesrand wiegten sich die Birken und Schlehen, und ich sah blinzelnd in die Sonne und sog den Sommertag gierig in mich auf. Die Vögel zwitscherten übermütig, während der eiskalte Bach talwärts sprudelte und versuchte, sie mit seinem Glucksen zu übertönen. Meine Muskeln und Knochen schmerzten von der Feldarbeit, denn wir waren um vier Uhr früh aufgestanden und zu unseren handtuchschmalen Feldern gefahren, hatten nicht ein Hälmchen, nicht ein vertrocknetes Äpfelchen, keine runzelige Schlehe und keine erdverkrustete Mohrrübe übersehen. Wir hatten uns Brennnesseln in den Mund gestopft und Beeren und zur Mittagszeit altbackenes Brot in Wasser eingeweicht und an den säuerlichen Krusten gelutscht, bis sie ganz süß schmeckten. Mittlerweile waren unsere mageren Ärmchen zerkratzt, die Knie blutig, unsere Finger voller Blasen und die Schultern verbrannt, aber dies war ein köstlicher Moment: Ausruhen durften wir uns, wenn auch nur für die halbe Stunde des Rückweges.
    »Gottlieb! Wach doch auf! Wir sind an der Kreuzung! Das Mistvieh will nicht bergauf!«
    Meine Mutter rammte dem schlafenden Vater den Stock in die Seite, und der schrak hoch und zog die Zügel an. Geradeaus ging es ins nächste Tal, rechts bergauf zu unserer Arme-Leute-Siedlung.
    »Steh, Liesel, steh!« Mit einem Ruck hielt der Leiterwagen, und auch wir Mädchen wurden unsanft aus unseren Tagträumen gerissen. An dieser Stelle mussten wir immer abspringen und schieben helfen.
    Der Vater sprang ab und humpelte um den Wagen herum, um uns herunterzuhelfen. Zuerst war meine Schwester Sieglinde an der Reihe. Die Neunjährige stand auf und ließ sich in die ausgebreiteten Arme des Vaters fallen – einer der wenigen Momente in unserer Kindheit, wo so etwas geschah. Ich war auch schon aufgestanden und zum hinteren Ende des Wagens gelaufen, um mich jauchzend in die väterlichen Arme zu werfen, als sich die Kuh Liesel plötzlich mit ungeahnter Kraft ins Geschirr warf. Ich höre noch heute das knirschende Ächzen der Deichsel und sehe den Staub aufwirbeln: Wie ein Pfeil flog ich durch die Luft und knallte mit dem Kopf auf die Pflastersteine. Sofort verlor ich die Besinnung. Die Kuh floh panisch mitsamt dem Wagen querfeldein, und mein Vater rannte ihr nach, um weitere Katastrophen zu verhindern.
    Meine Mutter musste mich Ohnmächtige den ganzen weiten Weg bis nach Hause tragen. Sie wusste nicht, ob ich noch lebte oder tot war. In der Steinbruchsiedlung hingen die Leute neugierig in den Fenstern oder lehnten sich über ihren Gartenzaun:
    »Na, Karoline? Hat sie schlappgemacht?«
    »Tja. Einen Arzt haben wir nicht in Glatten!«
    »Am besten, du legst die ins Bett, die Kleine wird schon wieder!«
    »Wie alt ist sie jetzt? Fünf? Wenn sie heiratet, ist alles wieder gut!«
    Keiner der Nachbarn half meiner Mutter. Keiner bot an, sie ins nächste Kreiskrankenhaus zu bringen. Alle glotzten und sparten nicht mit gönnerhaften Ratschlägen.
    »Am nächsten Dienstag kommt die Krankenschwester wieder ins Tal der Vergessenen. Dann schicken wir sie bei dir vorbei!«
    »Heile, heile Segen, drei Tage Regen!«
    »Da hast du einen Esser weniger, sei doch froh!«
    »Was lässt du die Kinder auch auf dem Leiterwagen fahren! Sie haben doch Beine, können doch laufen!«
    Unter Gespött und Gefeixe kam meine Mutter schließlich erschöpft in unserer Behausung an und legte mich in
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