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Gefangen (German Edition)

Gefangen (German Edition)

Titel: Gefangen (German Edition)
Autoren: Sira Rabe
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es doch noch tun würde. Sie war großherziger, als er es verdiente, und er nahm sich vor, nie wieder einen Menschen in dem Maße beherrschen zu wollen, wie er es vorgehabt hatte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er dieses Bedürfnis auf Dauer unterdrücken konnte. Er hatte immer geglaubt, es wäre ihm nur darum gegangen, von einer Frau geliebt zu werden, bedingungslos und demütig geliebt zu werden, damit er ihr seine ganze Zärtlichkeit schenken konnte. Aber es ging um viel mehr. Er kostete das Gefühl der Macht aus, es berauschte und erregte ihn, wenn Delia ihn ein wenig verängstigt und unterwürfig, gepaart mit Trotz und Eigensinnigkeit, anschaute, die ihn zu einer Züchtigung oder anderen Maßnahmen der Unterdrückung herausforderten. Aber es war vorbei. Er hatte das Spiel verloren. Das Leben aber ging weiter. Irgendwie. Wenngleich nichts mehr wie vorher sein würde. Nie mehr.
     
    Die folgenden Tage waren eine Qual. Die Kolleginnen und Kollegen begrüßten Delia wie jemanden, der aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen worden ist. Sie erkundigten sich zwar freundlich nach ihrem Befinden, doch die Art und Weise, wie sie ihr begegneten, hatte etwas Künstliches und Zurückhaltendes an sich. Sie fühlte sich auf unangenehme Weise auf Schritt und Tritt beobachtet. Aber bald schlugen die Wogen des täglichen Stresses über ihr zusammen und die Lage normalisierte sich. Man vergaß, dass sie wochenlang gefehlt hatte.
    Abends, wenn sie alleine an ihrem Küchentisch aß, lustlos ein Fertiggericht in sich hineinstopfte oder durch die Kanäle des Fernsehprogramms zappte, vermisste sie die Gespräche mit Lennart, seine Zärtlichkeiten, seine Fürsorge. Er hatte sich in den letzten gemeinsamen Tagen wirklich Mühe gegeben, das miserable Bild, das sie von ihm gewonnen hatte, zu tilgen. Und es wäre ihm möglicherweise sogar gelungen. Bei dem bloßen Gedanken, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren, wie sie zärtlich, aber auch erbarmungslos alles erkundeten und in Besitz nahmen, wurde ihr heiß. Aber dann hatte er sie auf einmal nach Hause gebracht und sie verstand immer noch nicht, warum. Die wiedergewonnene Freiheit hatte einen schalen Beigeschmack.
      
    Die ganze darauffolgende Woche arbeitete Delia mechanisch wie ein Roboter, ging mechanisch zu Bett, stand mechanisch auf. Freitagabend genehmigte sie sich ein Glas Wein und versuchte bewusst nachzudenken. Dann nahm sie ein Blatt Papier und fertigte eine Liste an: links die Vorteile, rechts die Nachteile, die ihr aus der Begegnung mit Lennart entstanden waren. Sie versuchte sich an Äußerungen zu erinnern, an Details, an Gründe, warum er sich in gewissen Situationen so und nicht anders verhalten hatte. Und dann erschien ihr sein Entschluss, sie freizugeben, auf einmal völlig logisch. Er liebte sie wirklich. Er hatte sie aus Liebe freigelassen. Jetzt wusste sie endlich, was sie zu tun hatte.
     
    Schlaftrunken schnappte Lennart sich seinen Morgenmantel und tappte die Treppe hinunter. Wer um alles in der Welt klingelte am Samstagmorgen um sechs Uhr Sturm und jagte ihn aus dem Bett? Er hoffte für diesen jemand, dass er gute Gründe hatte.
    Delia trat nervös von einem Bein auf das andere. Wenn er nun gar nicht zu Hause, sondern über das Wochenende weggefahren war? Oder sie falsche Schlüsse gezogen hatte und er sie doch nicht liebte? Da hörte sie seine Schritte die Treppe hinunterkommen und die Tür ging auf.
    Lennart schaute sie nur an, sprachlos, irritiert. Er hatte alles Mögliche erwartet, jedoch nicht Delia. Die vergangenen zwei Wochen waren grauenvoll gewesen. Er hatte sich noch nie so entsetzlich allein gefühlt. Liebeskummer, Herzschmerz – das war etwas, was er schon lange nicht mehr erlebt hatte. Es war schrecklich. Er konnte damit nicht umgehen. Nur die Arbeit lenkte ihn ein wenig ab. Wenn er nicht zu feige gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich auf irgendeine Weise umgebracht. Das Leben war nicht lebenswert ohne sie. Aber er war selber schuld, und deswegen musste er auch weiter leben und leiden. Es geschah ihm recht so. Er wusste, er hatte alles vermasselt, aber er wusste nicht, wie es in Zukunft weitergehen sollte. Sein bis dahin sorgsam geordnetes Leben war aus den Fugen geraten. Völlig.
    Delia wirkte alles andere als glücklich, sie sah übernächtigt, in seinen Augen aber trotzdem bezaubernd aus. Ein stilles Lächeln lag auf ihren rot geschminkten Lippen.
    Endlich fand er seine Fassung wieder und sagte: «Hallo, guten Morgen, Delia.
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