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Gefangen (German Edition)

Gefangen (German Edition)

Titel: Gefangen (German Edition)
Autoren: Sira Rabe
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er sie nicht einfach in Ruhe gelassen?
    Nichts fehlte. Selbst der Brotkasten und der Kühlschrank waren mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln aufgefüllt, und auf dem Fensterbrett standen drei Töpfchen mit frischem Basilikum, Schnittlauch und Oregano, daneben eine Schale mit knackigen, leuchtend roten Eiertomaten.
    Nichts war unaufgeräumt oder unsauber. Es gab nichts für sie zu tun. Nichts, womit sie sich hätte ablenken können.
    Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, schaltete den Fernseher ein, aber die Bilder flirrten an ihr vorbei, ohne dass sie diese wahrnahm. Ihr Kopf war wie tot. Ihre Gedanken waren nur Fetzen. Sie war ausgeblutet, nur noch ein Zombie ihrer selbst. Ein Teil von ihr war bei ihm zurückgeblieben.
    Irgendwann schlief sie ein. Als sie aufwachte, war Sonntag. Sie hatte also noch diesen einen Tag, wieder zu sich selbst zu finden, über eine passende Erklärung für die Kollegen nachzudenken. Morgen würde sie wieder arbeiten gehen. Arbeiten? Was war das doch gleich wieder?
    Sollte sie nicht besser zur Polizei gehen und Lennart anzeigen? Vielleicht würde er dasselbe Spiel mit einer anderen Frau treiben? Aber wenn sie es genau bedachte, hatte er ihr nichts getan. Nicht wirklich. Außer – dass er ihr sechs Wochen lang ihre Freiheit geraubt und sie nach Belieben gevögelt hatte. Aber war das wirklich gegen ihren Willen geschehen? Er hatte sie nicht vergewaltigt, er hatte ihren Körper in Schwingungen versetzt, die sie vermissen würde.
    Sie brachte die Kraft nicht auf, hinzugehen und den Polizisten alles zu schildern. Dann hätte sie auch erzählen müssen, wo und wie sie ihn kennen gelernt hatte, und das war ihr zu peinlich. Nein, ein entschiedenes Nein. Sie wollte versuchen zu vergessen. Aber es würde schwerfallen.
    Spät am Abend überwand sie sich und rief Sabrina an. Mit wenigen nüchternen Worten erklärte sie ihr, was geschehen war, ehe Sabrina zu Wort kam. Ihre Freundin war für einen Augenblick sprachlos. Das war doch wohl ein schlechter Scherz! Aber Delia würde niemals solche schlechten Scherze machen. Außerdem zitterte ihre Stimme und sie musste immer wieder mal in ihrer Schilderung innehalten, um ihre Nase zu putzen.
    «Warte, ich komme zu dir. In einer halben Stunde bin ich da!»
    Aber Delia lehnte ab. Sie wollte niemanden sehen, nicht einmal Sabrina. Nur reden. Auch Sabrinas Drängen, sie müsse Lennart wegen Entführung und Freiheitsberaubung anzeigen, lehnte sie entschieden ab. Ihre Gründe leuchteten Sabrina ein. Delia müsste fremden Menschen schildern, was Lennart mit ihr gemacht hatte und wie sie durch selbst verschuldeten Leichtsinn überhaupt erst in diese Situation gekommen war. Trotzdem machte Sabrina sich Sorgen.
    «Du solltest einen Psychologen aufsuchen! Du brauchst Hilfe!», sagte sie.
    «Nein, danke. Das stand schon auf meinem Krankenschein! Ich brauche keinen Seelenklempner, ich schaff das schon!»
    Eine kurze Pause trat ein. Dann erzählte Sabrina ihr von der Postkarte, und in diesem Augenblick bestätigte sich für Delia wieder, wie raffiniert Lennart vorgegangen war. Er hatte sogar Delias Unterschrift gefälscht oder fälschen lassen, jemanden bestochen, der an ihrer Stelle die Karte aus Australien schickte, vielleicht eine Stewardess oder einen Touristen. Sogar Sabrina hatte sich davon täuschen lassen.
    Erneut drängte sie die Freundin, ihn anzuzeigen. Sie würde mitkommen. Doch Delia lehnte entschieden ab. Es gab für sie noch mehr Gründe, aber es waren Gründe, die Sabrina entrüsteten. Wie konnte Delia nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, dass eine Anzeige Lennarts Karriere zerstören würde, nach allem was er ihr angetan hatte? Nur die Begründung, dass eine Aussage vor Polizei und Gericht zu demütigend für Delia sein würde, akzeptierte Sabrina missmutig.
     
    Lennart saß hinter seinem Schreibtisch, handlungsunfähig, kraftlos. Er hatte seiner Sekretärin gesagt, er wäre nicht zu sprechen, für niemanden, schließlich waren sie die letzten Wochen auch ohne ihn ausgekommen. Termine würde er frühestens Ende der Woche wahrnehmen. Sie hatte erstaunt die Augenbrauen hochgezogen, aber nichts erwidert. Seit sie für Kerner arbeitete, und das waren immerhin schon fünf Jahre, hatte sie ihn noch nie in einem solchen Zustand erlebt. Rein äußerlich schien alles in Ordnung zu sein. Er sah gepflegt aus wie immer, aber sein Blick schien durch sie hindurchzugehen, und in seiner Stimme lag eine Bitterkeit, für die es einen tieferen Grund geben
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