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Gefährliches Geheimnis

Gefährliches Geheimnis

Titel: Gefährliches Geheimnis
Autoren: Anne Perry
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sie fort, »nachdem du schon den weiten Weg auf dich genommen hast, aber ich muss eine Freundin besuchen, und ich kann sie wirklich nicht enttäuschen.« Sie hob den Blick.
    »Ich bin sicher, du verstehst das. Aber ich besuche dich ein anderes Mal, wenn’s dir recht ist? Dann erzählen wir uns alle Neuigkeiten. Ich weiß, dass du schrecklich viel zu tun hast, ich schicke vorher ein Briefchen.« Fast unbewusst drängte sie Hester zur Tür.
    Auf diese unausgesprochene Aufforderung gab es keine höfliche Antwort, außer ihr nachzukommen.
    »Natürlich«, sagte Hester mit gezwungener Wärme. Die Gelegenheit, etwas zu erfahren, glitt ihr aus den Händen, und sie hatte keine Idee, wie sie sie festhalten sollte. Als sie die Schmuckkassette in der Hand hielt, hatte sie einen
    Augenblick das Gefühl gehabt, die alte Freundschaft sei wieder da, und im nächsten Augenblick waren sie Fremde, die höflich versuchten, einander zu entfliehen. »Vielen Dank für die Schatulle«, fügte sie hinzu. »Vielleicht könnte ich deswegen zu einer passenderen Zeit wiederkommen?«
    »Oh!« Imogen war bestürzt. »Ja … natürlich. Ich hatte nicht daran gedacht, dass du sie ja nach Hause tragen musst. Ich bringe sie dir vorbei.«
    Hester lächelte. »Komm bald.« Sie machte die Salontür auf, hauchte Imogen einen Kuss auf die Wange und durchquerte die Halle. Das Mädchen hielt ihr mit einem Knicks die Haustür auf.
    Am folgenden Morgen fuhr Hester in die Stadt, um über ihren Besuch zu berichten, und kurz nach zehn war sie in Charles’ Büro in der Fenchurch Street. Nach wenigen Minuten ließ er sie hereinbitten, und man führte sie in sein Büro. Er sah so steif und makellos aus wie bei ihrem letzten Zusammentreffen, und sein Gesicht war genauso blass und vom Schlafmangel gezeichnet. Er stand auf, als sie eintrat, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und bot ihr den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch an. Er blieb stehen, die Augen unverwandt auf ihr Gesicht geheftet.
    »Wie geht es dir?«, fragte er. »Möchtest du einen Tee?« Sie wollte den Abgrund zwischen ihnen überwinden und
    etwas wie »Sag mir, um Himmels willen, was du
    möchtest! Zappel nicht so herum! Verstell dich nicht!« sagen. Aber sie wusste, sie würde es ihm damit nur noch schwerer machen. Wenn sie versuchte, ihre Gefühle auszudrücken oder seine konzentrierte Anstrengung zu durchbrechen, würde sie die Situation nur noch verschlimmern statt zu entspannen.
    »Danke«, meinte sie. »Das ist äußerst aufmerksam.«
    Weitere zehn Minuten vergingen mit höflichen Banalitäten, bis das Tablett gebracht wurde und der Sekretär gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Charles bat Hester, den Tee einzuschenken, dann setzte er sich endlich und sah sie an.
    »Hast du Imogen besucht?«, fragte er.
    »Ja, aber nicht sehr lange.« Sie war sich deutlich bewusst, dass er in ihre Augen schaute, als versuchte er, darin etwas zu lesen, was genauer war als ihre Worte. Sie wünschte, sie könnte ihm erzählen, was er so verzweifelt zu hören hoffte. »Sie wollte ausgehen, und ich hatte meinen Besuch natürlich nicht angekündigt.«
    »Verstehe.« Er blickte in seine Tasse, als wäre die
    Flüssigkeit darin von starkem Interesse für ihn.
    Hester überlegte, ob es Imogen auch so schwer fiel, mit ihm zu reden. War er immer so schwer zugänglich gewesen, wenn es um etwas ging, was seine Gefühle berührte, oder war er durch das Zusammenleben mit Imogen so geworden? Wie war er vor fünf oder sechs Jahren gewesen? Sie versuchte, sich daran zu erinnern.
    »Charles, ich weiß nicht, was ich machen soll!«, sagte sie hilflos. »Wir haben uns monatelang nicht gesehen. Ich kann jetzt nicht plötzlich anfangen, sie jeden Tag zu besuchen. Sie hat keinen Grund, mir zu vertrauen, nicht nur, weil wir uns nicht mehr nahe stehen, sondern auch, weil ich deine Schwester bin. Sie muss doch wissen, dass meine Loyalität in erster Linie dir gilt.«
    Er starrte aus dem Fenster. Keiner von beiden hatte seinen Tee angerührt. »Als ich gestern nach Hause kam, sah ich sie gehen. Sie bemerkte mich nicht. Ich … ich blieb in der Droschke sitzen und bat den Kutscher, ihr zu folgen.«
    Hester war zu bestürzt, um etwas zu sagen. Sie wies den
    Gedanken zwar zurück, aber sie wusste, dass sie an
    Charles’ Stelle womöglich das Gleiche getan hätte, selbst wenn sie sich hinterher dafür verabscheut hätte. »Wo ist sie hingegangen?«, fragte sie, schluckte und hatte Mühe, ihre Stimme ruhig
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