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Gefährliches Geheimnis

Gefährliches Geheimnis

Titel: Gefährliches Geheimnis
Autoren: Anne Perry
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Drohungen und Gefahr, und hatte sie es den Rest ihres Lebens bedauert, war unfähig gewesen, sich mit einem Teil von sich selbst zu versöhnen, weil dies der
    Preis für das Schweigen war?
    Callandra hatte erwartet, sie würde Abscheu empfinden, doch während sie langsam den Gerichtssaal verließ, die Treppe hinunterging und den Regen im Gesicht spürte, war sie verwundert, dass sich Mitleid in ihr regte für all das, was vergeudet worden war.
    Sie stand allein auf dem Gehsteig, Menschen schoben sich an ihr vorbei. Wann würde man das Urteil verkünden? Monk hatte eine furchtbare Chance ergriffen. Er war brillant gewesen. Sie wusste, warum er es getan hatte. Es sah ihm ähnlich, ein verzweifelter Wurf, als alles andere verloren war. Er hatte gewusst, dass es bis ins Innerste verletzen und Wunden reißen würde, für die es keine Heilung gab.
    Sie wusste nicht, ob man sie zu Kristian vorlassen würde. Das Urteil war noch nicht gefällt, also war er formaljuristisch immer noch ein unschuldiger Mann. Sie konnte nicht behaupten, zur Familie zu gehören, aber sie war eine Vertreterin des Krankenhauses – Thorpe hatte dies nie bestritten. Wenn man Kristian außer seinem Anwalt überhaupt einen Besucher erlaubte, dann doch sicher, da er keine Verwandten hatte, eine Kollegin von seiner Arbeitsstelle.
    Sie musste sich beeilen. Das Urteil konnte jederzeit verkündet werden, und dann war es womöglich zu spät. Sie drehte sich um und ging die Treppe wieder hinauf.
    Sie wusste nicht einmal, ob er sie überhaupt sehen wollte, aber sie musste es versuchen. Was auch geschah, und sie weigerte sich, es bis zum Ende zu durchdenken, er musste vor dem Urteilsspruch erfahren, dass sie an seine Unschuld glaubte.
    Sie hatte gefürchtet, dass er Elissa umgebracht haben könnte. Aber sie glaubte nicht, dass er dann weitergemacht
    und Sarah Mackeson getötet hätte. Keine Angst der Welt konnte den Mann, den sie kannte, zu einer solchen Tat getrieben haben. Sie musste ihm ins Gesicht sehen, damit er das in ihren Augen erkennen konnte.
    »Aber nur kurz, Ma’am«, sagte der Wachposten zögernd, seine Stimme war angespannt, und er sah sich hastig um, ob er nicht von einem Vorgesetzten beobachtet wurde. Er tat es aus Mitgefühl, und es machte ihn nervös.
    »Vielen Dank«, sagte sie aufrichtig.
    »Zehn Minuten, mehr nicht«, ermahnte er sie.
    »Vielen Dank«, sagte sie noch einmal. Zehn Minuten schienen hoffnungslos wenig zu sein, aber das wären auch zehn Stunden gewesen. Egal, wie viel Zeit es war, es gab immer ein Ende, einen Abschied, welcher der letzte sein konnte. Wenn sie nur zehn Minuten hatte, dann war jede Sekunde umso kostbarer.
    Der Wachposten schloss die Tür auf, und als er sie aufzog, schleifte Eisen über Stein. »Besuch für Sie!«, sagte er und ließ sie eintreten.
    Kristian stand da und schaute aus dem hohen Fenster, hinter dem ein graues Viereck Tageslicht zu sehen war. Er drehte sich überrascht um, aber als er Callandra erblickte, war seine Miene verschlossen, unergründlich. Er wusste nicht, was er von ihr zu erwarten hatte, und war geistig wie psychisch erschöpft. Er hatte keine Reserven mehr, um sich mit ihren Nöten oder Zweifeln auseinander zu setzen. Alle Gewissheit war ihm geraubt worden, nicht einmal seine Identität war noch die, derer er sich sicher geglaubt hatte. Sein Volk und sein Erbe waren eine Illusion, und die Wirklichkeit war ihm fremd, schlimmer als fremd, weil sie bekannt war und, wenn auch unterbewusst, als minderwertig betrachtet wurde. Er war nicht mehr einer von »uns«. Ohne dass er sich verändert
    oder etwas getan hatte, war er unerklärlicherweise einer von »ihnen« geworden.
    Die Frau, die er für ihren Mut und ihre Ehre bewundert hatte, hatte einen schrecklichen Verrat begangen und es vor aller Welt geheim gehalten, hatte ihn jeden Tag gesehen und mit ihm gesprochen und es ihm doch verschwiegen.
    Callandra wusste, dass er nicht darüber reden konnte. Wie für einen Todkranken hatte sich die ganze Welt für ihn verändert, und er war nicht mehr stark genug, darauf zu reagieren.
    Sie lächelte ihn an wie an einem ganz normalen Tag. Sollte sie etwas sagen, was von Bedeutung war? Dass sie an ihn glaubte? Dass es egal war, ob er Jude oder Christ war? Dass sie nicht empört war über das, was Elissa getan hatte, und dass sie ihn nicht dafür verantwortlich machte, wie er jetzt reagierte?
    Er begegnete ihrem Blick, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und waren von dunklen Schatten umgeben, als
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