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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte
Autoren: Haruki Murakami
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mir wuchs die Überzeugung, der Umschlag habe nie wirklich existiert, und sie verdrängte meine Überlegungen, zermalmte und verschlang gierig meine Gewißheit, daß der Umschlag real vorhanden gewesen war.
    Da Erinnerungen und Sinneseindrücke so ungewiß sind, so vielen Einflüssen unterliegen, beziehen wir uns, um uns die Realität von Ereignissen zu beweisen, stets auf eine parallele Realität - nennen wir sie Meta-Realität. Inwieweit Tatsachen, die wir als solche anerkennen, wirklich so sind, wie sie uns erscheinen, und inwieweit sie nur darum Tatsachen sind, weil wir sie zu solchen erklären, läßt sich unmöglich entscheiden. Um also die Realität als real bestimmen zu können, brauchen wir eine zweite Realität, an der wir die erste messen. Diese zweite Realität jedoch bedarf zu ihrer Begründung einer dritten Realität, und immer so weiter. Auf diese Weise entsteht in unserem Bewußtsein eine unendliche Kette einander bedingender Realitäten, und gerade das Aufrechterhalten dieser Kette erzeugt in uns das Empfinden, daß wir tatsächlich hier sind, daß wir existieren. Es kann jedoch ein Ereignis eintreten, das diese Kette zerreißt, und prompt wissen wir nicht weiter. Was ist wirklich? Liegt die Realität diesseits des Bruchs in der Kette? Oder dort drüben, auf der anderen Seite?
    Genauso fühlte ich mich also in dem Moment: abgeschnitten. Ich stieß die Schublade wieder zu und beschloß, das Ganze zu vergessen. Ich hätte das Geld fortwerfen sollen, sobald ich es erhalten hatte. Es aufzubewahren war ein Fehler gewesen. Am Mittwochnachmittag derselben Woche fuhr ich gerade die Gaien Higashidori entlang, als ich eine Frau sah, die Shimamoto ähnelte. Sie trug eine blaue Baumwollhose, einen beigefarbenen Regenmantel und weiße Leinenschuhe. Und sie zog ein Bein nach. Sobald ich sie sah, erstarrte alles um mich her. Ein Klumpen Luft zwängte sich mir vom Brustraum hinauf in die Kehle. Shimamoto, dachte ich. Ich fuhr an ihr vorbei, um sie mir im Rückspiegel anzusehen, aber ihr Gesicht ging im dichten Gewühl von Passanten unter. Ich trat abrupt auf die Bremse, was mir ein entrüstetes Hupen des Wagens hinter mir eintrug. Die Haltung der Frau, ihre Frisur - ganz Shimamoto. Ich wollte sofort anhalten, aber auf dem Parkstreifen stand ein Auto nach dem anderen. Rund zweihundert Meter weiter fand ich endlich eine Parklücke und schaffte es, meinen Wagen hineinzuquetschen; dann rannte ich sofort zurück, um die Frau zu finden. Aber sie war nirgendwo zu sehen. Ich rannte wie ein Wahnsinniger hin und her. Sie hat ein lahmes Bein, sagte ich mir, da kann sie unmöglich weit gekommen sein. Ich rempelte Leute an, schlängelte mich durch die fahrenden Autos auf die andere Straßenseite, rannte die Fußgängerüberführung hinauf und suchte den Passantenstrom von oben ab. Mein Hemd war naßgeschwitzt. Bald aber kam mir eine Erleuchtung. Die Frau hatte das andere Bein nachgezogen. Und Shimamoto zog ihres überhaupt nicht mehr nach.
    Ich schüttelte den Kopf und seufzte tief auf. Anscheinend stimmte mit mir etwas nicht. Mir war schwindlig, und ich fühlte mich völlig entkräftet. Ich lehnte mich gegen die Fußgängerampel und starrte eine Zeitlang auf meine Füße. Die Ampel schaltete von Grün auf Rot, von Rot auf Grün. Leute überquerten die Straße, warteten, überquerten die Straße, während ich, in mich zusammengesunken, reglos am Pfosten lehnte und nach Luft rang.
    Plötzlich blickte ich auf und sah Izumis Gesicht. Izumi saß in einem Taxi, das genau vor mir stand. Durch das hintere Fenster sah sie mich starr an. Das Taxi hatte vor der roten Ampel gehalten, und unsere Gesichter waren höchstens einen Meter voneinander entfernt. Sie war nicht mehr das siebzehnjährige Mädchen, mit dem ich einmal gegangen war, aber ich erkannte sie sofort. Das Mädchen, das ich vor zwanzig Jahren in den Armen gehalten hatte, das erste Mädchen, das ich je geküßt hatte. Das Mädchen, das sich an jenem Herbstnachmittag vor langer Zeit ausgezogen hatte und dann die Schließe ihres Strumpfhalters nicht mehr fand. Zwanzig Jahre mögen einen Menschen verändern, aber ich wußte, daß sie es war. Die Kinder haben Angst vor ihr, hatte mein alter Klassenkamerad gesagt. Als ich das hörte, hatte ich nicht verstanden, was er damit meinte; ich begriff nicht, was mir diese Worte mitteilen sollten. Nun aber, da ich Izumi direkt vor mir sah, verstand ich. In ihrem Gesicht war nichts, was man Ausdruck hätte nennen können. Nein, das trifft es
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