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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte
Autoren: Haruki Murakami
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gehörte. Ein-, zweimal die Woche setzten wir uns nebeneinander auf das Sofa, tranken den Tee, den ihre Mutter uns zubereitete, und verbrachten den ganzen Nachmittag mit Ouvertüren von Rossini, Beethovens Pastorale und der Peer-Gynt-Suite. Ihre Mutter war froh über meine Besuche. Es freute sie, daß ihre Tochter so schnell einen Freund in der neuen Schule gefunden hatte; und daß ich immer ordentlich angezogen war, dürfte auch eine gewisse Rolle gespielt haben. Ehrlich gesagt, habe ich es nie fertiggebracht, Shimamotos Mutter sonderlich zu mögen. Es gab dafür keinen bestimmten Grund; sie war immer nett zu mir. Aber ich hörte immer einen Anflug von Gereiztheit aus ihrer Stimme heraus, und das machte mich nervös.
    Von allen Schallplatten ihres Vaters mochte ich am liebsten die mit Liszts Klavierkonzerten: auf jeder Seite eines. Ich mochte diese Platte aus zwei Gründen. Erstens hatte sie ein schönes Cover. Zweitens war ich der einzige, den ich kannte - Shimamoto natürlich ausgenommen -, der sich Klavierkonzerte von Liszt anhörte. Das war eine erregende Vorstellung. Ich hatte eine Welt entdeckt, von der niemand in meiner Umgebung etwas ahnte - einen geheimen Garten, den nur ich betreten durfte. Ich fühlte mich hervorgehoben, auf eine höhere Daseinsebene versetzt.
    Und dann war die Musik selbst wundervoll. Anfangs kam sie mir übertrieben vor, gekünstelt, ja, unverständlich. Nach und nach aber, nach mehrmaligem Anhören, entstand ein undeutliches Bild in meinem Kopf - ein Bild, das etwas bedeutete. Wenn ich die Augen schloß und mich konzentrierte, erreichte mich die Musik als eine Folge von Strudeln. Zuerst bildete sich ein Strudel, dann entstand daraus ein zweiter. Und an den zweiten Strudel schloß sich ein dritter an. Heute weiß ich, daß diese Strudel eine ideelle, abstrakte Qualität besaßen. Wie gern hätte ich Shimamoto von ihnen erzählt! Aber sie waren mit der alltäglichen Sprache nicht zu erfassen. Ein völlig neues Vokabular wäre dazu erforderlich gewesen, aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es hätte aussehen können. Hinzu kam, daß ich nicht wußte, ob das, was in mir vorging, überhaupt wert war, in Worte gefaßt zu werden. Leider kann ich mich an den Namen des Pianisten nicht mehr erinnern. Nur das farbenprächtige Plattencover ist mir in Erinnerung geblieben und das Gewicht der Platte selbst. Sie war unerklärlich dick und schwer.
    Die Sammlung von Shimamotos Vaters enthielt auch je eine LP von Nat King Cole und Bing Crosby. Diese beiden hörten wir uns sehr häufig an. Crosby sang Weihnachtslieder, die wir immer wieder gern abspielten, ungeachtet der Jahreszeit. Es ist schon komisch, wie oft wir uns so etwas mit Genuß anhören konnten.
    Eines Dezembertags, kurz vor Weihnachten, saßen Shimamoto und ich wieder einmal in ihrem Wohnzimmer, wie gewöhnlich auf dem Sofa, und hörten uns Schallplatten an. Ihre Mutter war wegen irgendwelcher Besorgungen aus dem Haus gegangen, und wir waren allein. Es war ein bewölkter, dunkler Winternachmittag. Die staubschraffierten Strahlen der Sonne schafften es kaum, durch die schwere Wolkendecke zu dringen; alles sah trüb und reglos aus. Es ging auf den Abend zu, und im Zimmer war es dunkel wie in der Nacht. Ich weiß noch, daß das Licht ausgeschaltet war. Ein Kerosin-Heizgerät verströmte einen mattroten Schimmer. Nat King Cole sang gerade »Pretend«. Natürlich verstanden wir damals kein Wort des englischen Textes; für uns war er eher ein liturgischer Singsang. Aber ich mochte das Lied sehr, und ich hatte es so oft gehört, daß ich den Anfang irgendwie nachsingen konnte:
    Pretend you're happy when you're blue It isn't
    very hard to do
    Das Lied und das reizende Lächeln, das Shimamotos Gesicht stets erhellte, waren für mich ein und dasselbe. Der Text schien eine bestimmte Lebenseinstellung zum Ausdruck zu bringen - auch wenn es mir bisweilen schwerfiel, das Leben so zu sehen.
    Shimamoto trug einen blauen Pullover mit rundem Ausschnitt. Sie besaß eine ganze Reihe von blauen Pullovern; Blau muß ihre Lieblingsfarbe gewesen sein. Vielleicht trug sie die Pullover aber auch nur, weil sie gut zu dem marineblauen Mantel paßten, in dem sie immer in die Schule kam. Aus dem Ausschnitt lugte der weiße Kragen ihrer Bluse. Ein karierter Rock und weiße Baumwollstrümpfe vervollständigten ihre Kleidung. Ihr weicher, enganliegender Pullover zeichnete die leichte Schwellung ihrer Brüste nach. Mit untergeschlagenen Beinen saß sie auf dem Sofa.
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