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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte
Autoren: Haruki Murakami
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besonders an und bekam darin gute Noten. Wenn es in der Schule mittags etwas gab, das sie nicht ausstehen konnte, aß sie es trotzdem. Mit anderen Worten: Sie errichtete eine weit höhere Schutzmauer um sich, als es mir je gelungen war. Was jedoch hinter dieser Mauer lag, unterschied sich kaum von dem, was hinter meiner lag.
    Bei Shimamoto konnte ich mich entspannen; in Gesellschaft anderer Mädchen nicht. Es gefiel mir sehr, zusammen mit ihr nach Hause zu gehen. Beim Gehen hinkte sie leicht. Manchmal hielten wir auf halbem Weg bei einer Parkbank an, aber das störte mich nicht. Im Gegenteil, ich war dankbar für die zusätzliche gemeinsame Zeit.
    Bald sah man uns immer häufiger zusammen, aber ich kann mich nicht erinnern, daß sich jemand deswegen über uns lustig gemacht hätte. Damals fiel mir das nicht weiter auf, aber jetzt finde ich es schon merkwürdig. Schließlich neigen Kinder in diesem Alter dazu, über solche angehenden Pärchen zu spotten und zu witzeln. Es könnte an Shimamotos Art gelegen haben; etwas an ihr schüchterte andere ein, ließ sie denken: Mann - vor dem Mädchen sagst du besser keine Dummheiten! Selbst unsere Lehrer wirkten im Umgang mit ihr leicht nervös; es mag auch an ihrem gelähmten Bein gelegen haben. Jedenfalls fanden die meisten, Shimamoto sei nicht von der Sorte, die man hänselt, und mir konnte das nur recht sein.
    Während des Sportunterrichts saß sie am Rand, und wenn unsere Klasse eine Wanderung oder eine Bergtour unternahm, blieb sie zu Hause. Genauso, wenn wir im Sommer ins Schwimmlager fuhren. Bei unserem jährlichen Sportfest wirkte sie zwar nicht besonders glücklich, aber sonst führte sie in der Schule ein ganz normales Leben. Von ihrem Bein sprach sie fast nie. Ja, wenn ich mich recht erinnere, überhaupt nie. Niemals entschuldigte sie sich auf dem Nachhauseweg dafür, daß ich ihretwegen langsamer gehen mußte, oder ließ auch nur zu, daß dieser Gedanke sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Ich wußte jedoch, daß sie ihr gelähmtes Bein nie erwähnte, gerade weil es ihr sehr zu schaffen machte. Sie ging nicht gern zu anderen nach Hause, weil sie dann gezwungen gewesen wäre, wie in Japan üblich, ihre Schuhe in der Diele auszuziehen. Sie hatte unterschiedlich hohe Absätze, und auch die zwei Schuhe waren unterschiedlich geformt - was sie unter allen Umständen zu verbergen versuchte. Es waren bestimmt Maßanfertigungen. Wenn wir bei ihr zu Hause ankamen, warf sie als erstes ihre Schuhe so schnell wie möglich in den Schrank.
    Im Wohnzimmer von Shimamotos Haus stand eine brandneue Stereoanlage, und ich kam oft zu ihr, um Musik zu hören. Die Anlage war wirklich gut, die dazugehörige Plattensammlung nahm sich dagegen eher bescheiden aus. Shimamotos Vater besaß, wenn's hoch kam, fünfzehn LPs, hauptsächlich mit leichterer klassischer Musik. Wir müssen uns diese fünfzehn Platten tausendmal angehört haben, und noch heute kann ich mich an alle Stücke erinnern - Note für Note.
    Für die Schallplatten war Shimamoto verantwortlich. Sie nahm eine aus der Hülle, legte sie behutsam auf den Plattenteller, ohne die Rillen mit den Fingern zu berühren, und nachdem sie die Nadel mit einer winzigen Bürste von jeglichem Staub befreit hatte, setzte sie mit allergrößter Vorsicht den Tonarm auf. Wenn die Platte zu Ende war, besprühte sie sie mit einem Spray, wischte sie mit einem Reinigungstuch ab, steckte sie in ihre Hülle zurück und stellte sie an ihren Platz im Regal. Ihr Vater hatte ihr dieses Vorgehen beigebracht, und sie befolgte seine Anweisungen mit beängstigend ernstem Gesicht, leicht zusammengekniffenen Augen und fast, ohne zu atmen. Währenddessen saß ich auf dem Sofa und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Erst wenn die Schallplatte wieder sicher im Regal stand, wandte sie sich mir zu und schenkte mir ein kleines Lächeln. Und jedesmal durchzuckte mich der Gedanke: Es war keine Schallplatte, womit sie da hantierte. Es war eine zarte Seele in einer Glasflasche.
    Bei uns zu Hause gab es weder Schallplatten noch Plattenspieler. Meine Eltern machten sich nicht viel aus Musik. Also hörte ich immer die Musik aus einem kleinen Plastikradio, das nur Mittelwelle empfing. Am liebsten mochte ich Rock `n' Roll, aber es dauerte nicht lange, bis ich auf den Geschmack der Art von Klassik kam, die ich bei Shimamoto hörte. Dies war Musik aus einer anderen Welt, was schon an sich seinen Reiz hatte, aber mehr noch als deswegen liebte ich sie, weil Shimamoto zu dieser Welt
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