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Gefaehrlich begabt

Gefaehrlich begabt

Titel: Gefaehrlich begabt
Autoren: Simone Olmesdahl
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im Schutz der Dunkelheit die Zeit zu nutzen und zu weinen. Sie gestattete sich, hier, wo es niemand sah, dem Unvermeidlichen ins Gesicht zu blicken. Sie konnten den Krieg nicht gewinnen.

42. Kapitel
    Gottesdienst
    D ie kalten und steifen Glieder schmerzten. Ihr Kopf dröhnte, als würde er kurz vor dem Platzen stehen, und die Haut in ihrem Gesicht spannte von den salzigen, vertrockneten Tränen. Wie lange sie hier bereits saßen, wusste Anna nicht, aber lange genug, dass ihr die Tränen ausgegangen waren. Außer Marlas leisem Schluchzen und Sebastians gelegentlichem Aufstöhnen hörte sie seit geraumer Zeit keinen Laut. Sicher hatten sich die beiden mehr als ein paar Brüche zugezogen, aber sie harrten aus. Die Luft im Schuppen roch abgestanden und verbraucht und die Temperaturen sanken mit fortschreitendem Abend.
    »Ich glaube, es ist dunkel. Ich werde zunächst allein gehen und sehen, ob ich ein paar frische Kleider organisieren kann. So können wir uns nicht raustrauen«, unterbrach Sebastian plötzlich die beißende Stille.
    »Lass uns nicht allein«, wisperte Anna.
    »Lass ihn«, sagte Marla mit heiserer Stimme.
    Anna atmete auf. Zwischenzeitlich hatte sie sich vorgestellt, Marla wäre vielleicht in ein Delirium gefallen. Aus purer Angst hatte sie sich dessen nicht vergewissert.
    »Wartet hier. Wenn ich zurück bin, müssen wir zu einem Heiler.«
    Sebastian öffnete die Schuppentür einen Spaltbreit. Ein schwacher Lichtschein drang herein und verlor sich zwischen ein paar Spinnweben. Seine Vermutung bestätigte sich, es herrschte bereits Dunkelheit. Himmel, sie mussten mindestens schon drei Stunden hier hocken. Das sanfte Licht einer Straßenlaterne gab für ein paar Sekunden einen Blick auf Marlas Gesicht preis. Ein Film aus Schweiß zog sich über ihre Haut, sie wirkte verkrampft. Sebastian schob sich durch die Tür und schloss sie. Die Finsternis hüllte sie wieder ein.
    »Wie geht es dir?«, fragte Anna leise, darauf bedacht, dass sie draußen niemand hören konnte.
    »Hab mich schon besser gefühlt. Mein Schlüsselbein ist definitiv gebrochen und etwas stimmt mit meiner Lunge nicht. Es fällt mir schwer, zu atmen«, wisperte Marla. Nach einer Weile, als ob sie erst Kraft für den nächsten Satz hätte sammeln müssen, fragte sie: »Und wie geht es dir?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Anna ehrlich. Sie besaß kein Gefühl mehr für ihren tauben Körper. Die Einschnitte der Hecke in den Händen brannten wie Feuer, mehr spürte sie nicht. Ob sie gelähmt war? Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, versuchte sie, die angewinkelten Beine auszustrecken. Es funktionierte, wenn auch langsam und schmerzhaft. Sie hatte zu lange in derselben Position verharrt.
    »Kennst du einen Heiler?«, fragte sie.
    »Vielleicht.«
    Die Antwort klang schon mal besser als ein Nein, wenn auch trostlos. »Meinst du, er hat Josh getötet?«
    »Anna, spar dir die Kraft und hör auf zu sprechen.«
    Marla musste es richtig schlecht gehen, wenn sie nicht mal mehr sprechen mochte. Anna igelte sich ein, indem sie ihre Beine zurück an den Körper zog.
    Die Zeit verging nur langsam. Wo blieb Sebastian? Nach gefühlten drei Stunden kroch er plötzlich durch den Türspalt. Er brachte tatsächlich saubere Kleidung mit. Wo er sie aufgegabelt hatte, wollte sie nicht wirklich wissen. Neu sahen sie nicht aus. Er reichte ihnen Hosen und Jacken, außerdem Schuhe. Seit sie ihre auf dem Dach zurückgelassen hatten, liefen sie barfuß. Sie war so steifgefroren, dass sie nur ihre Füße anstarrte.
    »Zieh dich um«, sagte Sebastian.
    Da die Jalousien des Einfamilienhauses heruntergelassen waren, wagten sie es, die Schuppentür eine Handbreit offen stehen zu lassen. Anna fand den Weg aus der schwarzen Hose, die sie seit London trug, und schlüpfte in die saubere Jeans. Sie passte halbwegs, die Schuhe auch. Marla hatte Schwierigkeiten, aus der Jacke zu kommen. Sebastian half ihr.
    Halbwegs sauber bekleidet standen sie im Schuppen. Sebastian hielt ihr eine Wasserflasche hin, Marla trank bereits große Schlucke aus ihrer. Wo hatte er die plötzlich hergezaubert? Die Kohlensäure brannte in ihrem viel zu trockenen Hals, trotzdem schluckte sie gierig. Als sie drei Viertel der Flasche geleert hatte, zog Sebastian sie sanft weg.
    »Wasch dir mit dem Rest Gesicht und Hände.«
    Anna trat ins Freie und befolgte seine Anweisung. Sie war froh, dass er ihr sagte, was sie tun sollte. Allein wäre sie einfach in dem Schuppen sitzen geblieben und hätte auf den Tod
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