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Gefaehrlich begabt

Gefaehrlich begabt

Titel: Gefaehrlich begabt
Autoren: Simone Olmesdahl
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rot.
    Rote Farbe, wohin das Auge reichte. Es war Blut, das wusste sie sofort. Der Türrahmen und die Wand hatten ein paar Sprenkel abbekommen und der Wohnzimmerteppich glich einem Schlachthausboden. Übelkeit keimte auf und die bittere Flüssigkeit sammelte sich in Annas Mund.
    Das Bedürfnis, davonzurennen, siegte beinahe über ihren gesunden Menschenverstand. Sie dachte an Eva. Mit Sicherheit brauchte sie Hilfe. Anna riss sich aus ihrer Starre, rannte über den Flur ins Wohnzimmer. Scharf bremste sie ab, als sie Evas leblosen Körper auf dem Boden liegen sah. Alles in ihr sträubte sich zu glauben, was so offensichtlich war. Der Anblick ließ sie verzweifeln, aber sie zwang sich, Evas Puls zu fühlen. Fast wurde ihr schwarz vor Augen, als sich ihr schrecklicher Verdacht bestätigte. Anna zog die zitternden Finger fort.
    Jegliche Hilfe kam zu spät, einen solchen Blutverlust überlebte niemand. Der sonst helle Teppich war vollends rot verfärbt und sogar die weiße Ledercouch übersäten hässliche Blutspritzer. Die Fensterrahmen und die Wand trugen Flecke, Evas Haut hingegen wirkte weißer als die Tapete. Die Augen hatte sie geschlossen, was sie, wenn das Blut nicht wäre, fast aussehen ließ, als würde sie friedlich schlafen. Aber sie würde die Lider nie wieder öffnen, nie wieder würde Anna in ihre grünen Augen blicken. Eva war tot. Jemand hatte ihr brutal die Halsschlagader durchtrennt – und ein Finger fehlte an ihrer linken Hand.
    Tränen verschleierten ihren Blick.
    Man hörte doch immer, dass einem in den Sekunden vor dem Tod das ganze Leben vor dem geistigen Auge abgespielt werden würde. Wie ein Film, längst gedreht und fast vergessen, doch noch einmal herausgeholt, um ein letztes Mal angesehen zu werden. Obwohl nicht Anna gestorben war, traf es bei ihr in diesem Moment zu. Sie sah Evas Leben vorüberziehen.
    Eva, wie sie lachte, wie sie im Meer schwamm und wie sie ihrer Mutter sagte, dass sie in den Norden ziehe. Da war Anna vielleicht zwei Jahre alt gewesen, die blasse Erinnerung hatte sie beinahe vergessen.
    Ihre Eingeweide zogen sich schmerzlich zusammen und eine tiefe Traurigkeit verdrängte die Angst, der Mörder könnte vielleicht noch im Haus sein. Der Verlust wurde ihr plötzlich und auf abscheuliche Art und Weise bewusst. Eva war mehr Familie für sie gewesen, als es jemand anders je sein würde.
    Ihr Herz blutete.
    Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren, und die Tränen zu unterdrücken, erfolglos. Das Wasser schoss ihr in die Augen und ein Stein, so groß wie die Welt, legte sich schwer auf ihre Brust. Sie konnte nicht atmen. Das Gefühl, vor Trauer ersticken zu müssen, ließ sie schluchzend neben dem Leichnam zusammenbrechen.
    Behutsam legte sie den Kopf auf Evas Körper. Ihr Gesicht und ihre Haare tauchten in die Blutlache, aber sie hatte keine Kraft, aufzustehen, weinte und weinte eine gefühlte Ewigkeit in das T-Shirt der Toten.
    Wie viel Zeit vergangen war, wusste sie nicht.
    Irgendwann schaffte Anna es, ihre Gedanken zu sortieren. Mit einer Klarheit, die sie Sekunden zuvor noch für unmöglich gehalten hatte, richtete sie sich auf. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, sah, dass sie Evas Blut auf dem Boden verteilte. Sie verbot sich, weiter zu fühlen. Auf wackligen Beinen lief sie zum Schreibtisch und wählte die 110. Eine Frauenstimme meldete sich und Anna hätte nicht erstaunter sein können, wie nüchtern ihre Antwort ausfiel.
    »Mein Name ist Anna Graf. Ich habe gerade meine Tante gefunden. Sie ist tot und hier ist alles voller Blut. Können Sie herkommen?«
    Hier auf dem Land dauerte es wegen der Entfernung etwas länger, bis ein Krankenwagen und die Polizei eintrafen. Die endlosen zwanzig Minuten verbrachte Anna damit, sich ausgiebig zu duschen. Sie trug fünfmal Shampoo auf und seifte sich gründlich ein. Die blutverschmierte Kleidung entsorgte sie im Mülleimer, sie wollte die Sachen nie wieder tragen. Das alles tat sie automatisch und wie in Zeitlupe, sie fühlte sich wie ferngesteuert. Dann öffnete sie die Haustür und setzte sich wie betäubt auf die Eingangsstufen.
    Als kleines Mädchen hatte sie die dumme Angewohnheit gehabt, auf ihren Haaren zu kauen, und auch jetzt nahm sie eine Strähne in den Mund. Vielleicht versuchte ihr Unterbewusstsein, sie in eine Zeit zurückzuversetzen, in der alles in Ordnung gewesen war.
    In der Ferne ertönte ein Martinshorn. Und mit einem Mal begriff Anna: die Kälte, das Schwindelgefühl, der Reiter … Evas Talent! Es
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