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Geburtstag in Florenz

Geburtstag in Florenz

Titel: Geburtstag in Florenz
Autoren: Magdalen Nabb
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auf der anderen Seite gibt’s nur den Tod, das einzig unheilbare Übel in der Welt. Hätte er sie damals schon richtig einschätzen können, dann hätte er ihr alles erzählt, nicht nur die zensierte Version. Doch wenn er jetzt so zurückdachte, war es natürlich möglich, daß sie ohnehin alles erraten und es nur für sich behalten hatte. Wie hätte sie, die ihn so gut kannte, auch glauben sollen, daß er einzig wegen des zerstörten Vogelnestes solch bittere Tränen vergoß? Aber das hatte er ihr erzählt.
    »Wir sind rauf geklettert, und Vittorio … Vittorio … er hat eins von den Eiern angefaßt … aber warum ist der Vogel einfach weggeflogen? Warum ist er nicht dageblieben und hat nach ihm gepickt? Wieso hat er ihm nicht die Augen ausgepickt? Nein, der ist einfach auf und davon, so weit er konnte, und dabei hat er noch lauthals gesungen und Schleifen gedreht in der Luft. So ein dummer Vogel! Er hätte ihm die Augen auspicken sollen und machen, daß er vom Baum fällt!«
    Und sie hatte ihm die Tränen getrocknet und keine Fragen gestellt. Dabei wußte sie es bestimmt. Wie hätte sie nicht wissen können, daß ein Junge – selbst in dem zarten Alter – nicht weint, bloß weil ein Vogel aus seinem Nest geflohen ist und sich vergebens das Herz aus dem Leib gesungen hat? Aber sie hatte nur seine zerkratzten Beine gebadet und ihm erklärt, daß die Vogelmutter bloß ihre Jungen schützen wollte und daß sie sich nicht anders zu helfen wußte, als mit ihrem wilden Gebaren seine und Vittorios Aufmerksamkeit von dem Nest abzulenken.
    Doch es hatte nichts genützt. Vittorio hatte sich lachend umgedreht, zu ihm hinuntergeschaut und die Vogeleier unter nicht enden wollendem Gelächter eins nach dem anderen in den Mund gesteckt und zerbissen.
    »Das sind keine gewöhnlichen Eier! Da sind kleine Vögelchen drin! Das darfst du nicht!«
    Er hatte sich fallen lassen und sich dabei das Schienbein aufgeschlagen, war, ohne sich darum zu kümmern, davongerannt, aber das Bild dieser nackten kleinen Embryos, die zwischen Vittorios blutigen Zähnen zerquetscht wurden, verfolgte ihn, bis er sich auf der staubigen Lehmstraße erbrach. Und trotzdem konnte er Vittorio nicht hassen, weil der hungrig war und ihn um sein Pausenbrot gebeten hatte, aber seine Mutter hatte ihm verboten, es herzuschenken, also konnte er auch nicht beichten … Doch nur das Weibchen opfert sich für seine Jungen. Vielleicht war es dieses schlichte Naturgesetz, das ihn so lange blockiert hatte, während er verständnislos die ausgeklügelten Kapriolen beobachtete, durch die Julian Forbes seine Aufmerksamkeit mit vorgetäuschten Lastern auf die falsche Fährte zu lenken suchte. Dabei hatte Forbes sich lediglich schützen und den Maresciallo von der einzigen Wahrheit, die auf seine Schuld hinwies, ablenken wollen, von der einen Frau, falls man sie schon so nennen konnte, die ihn nicht ablehnte, ja die ihre eigenen Gründe hatte, ihn zu erhören, und die nun wußte, daß umgekehrt auch sie nur benutzt worden war.
    Jetzt war niemand mehr da, der ihr hätte verzeihen können. Celia Carter, die sich weit über das erträgliche Maß hinaus gegrämt hatte über den Verrat der beiden Menschen, die sie als einzige auf der Welt bedingungslos liebte, Celia Carter hatte ihr verziehen, aber sie war tot.
    Der Maresciallo hätte viel darum gegeben, glauben zu dürfen, daß die Tränen, die verschmiert auf Jennys zarten Wangen trockneten, aus Trauer um ihre Mutter geflossen waren, doch in seinem Herzen wußte er, daß das Mädchen um sich selbst geweint hatte, und das war das Traurigste von allem. Er gab sich einen Ruck und sagte laut und vernehmlich: »Signorina!«
    Sie schlug die Augen auf, war aber noch so schlaftrunken, daß sie ihn nicht gleich wahrnahm.
    »Wir müssen reden.«
    Jetzt erkannte sie ihn, aber ohne Verwunderung, so als ob er schon dagewesen wäre, als sie sich in den Schlaf weinte. Sie richtete sich auf und ließ die bestrumpften Beine über den Bettrand baumeln.
    »Wie spät ist es?«
    »Zehn vor sechs.«
    »Sie hat’s Ihnen gesagt, nicht wahr? Sissi hat’s Ihnen erzählt …«
    »Nein, nein … Sie hat mir nichts gesagt.«
    »Aber Sie wissen Bescheid?«
    »Ja.«
    Keine Spur mehr von der rigiden Selbstbeherrschung, die sie bei ihrer ersten Unterredung an den Tag gelegt hatte. Ihr Gesicht war fleckig und verquollen vom Weinen, schlaff hingen die Schultern unter der Haarlast herab.
    »Ich bin so unglücklich. Ich wünschte, ich wäre tot und nicht sie
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