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Gebrauchsanweisung fuer Indien

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Indien
Autoren: Ilija Trojanow
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Gegensatz zu anderen Vielvölkerstaaten wie etwa Indonesien droht Indien keineswegs an seiner Mannigfaltigkeit zu zerbrechen. In diesem Sinne ist Indien ein Vorbild für das Miteinander des Unterschiedlichen und scheinbar Gegensätzlichen, durchaus konfliktreich, aber im Laufe der Geschichte ebenso befruchtend.
    Wer weiß, wie man in hundert Jahren auf das 21. Jahrhundert zurückblicken werden wird. Vielleicht wird sich erwiesen haben, daß das arme, rückständige Indien mit einigen Herausforderungen der Epoche besser zurechtgekommen sein wird als die reichen, entwickelten Länder des Westens.

1. Mantra

    Mantra (Sanskrit, »Schutz durch Gedanken«; »man« – denken; »mana« – Geist; »manava« – homo sapiens): 1. Im Hinduismus und Buddhismus ein heiliger Ausspruch aus einer Silbe, einem Wort oder einem Vers, versehen mit mystischen oder spirituellen Kräften. 2. In der Umgangssprache, ob Deutsch oder Englisch, eine oft wiederholte, vermeintliche Wahrheit. Durchaus auch im abfälligen Sinn verwendet. 3. Motto, Maxime, Slogan, Werbeschlagwort.

    Es waren Millionen versammelt. Millionen von Menschen und Millionen von Dezibel. Zum größten Fest der Menschheit. Zum gewaltigsten Ritual Indiens. Ein Anlaß, sich zu reinigen, Energie zu tanken, sich seiner Glaubenswelt zu vergewissern. Der Ort – der Zusammenfluß von Ganges und Jamuna nahe der Stadt Allahabad – war ebenso segensreich wie der Zeitpunkt. Ein heiliges Zusammenkommen von Ort und Zeit, das nur hier stattfinden kann, alle zwölf Jahre.
    Drei Wochen verbrachte ich auf diesem Fest, der Kumbh Mela, untergebracht in einem Zelt, umgeben von den Eremiten, die Sadhus genannt werden und die sich oft in nichts anderes kleiden als der Asche, mit der sie sich eingeschmiert haben, und den Schwaden Hasch, die sie umräuchern. Jeden Morgen wurde ich um fünf in der Früh jäh aus meinem Schlaf gerissen von einem unsäglichen Gekreische, einer Mischung aus Sirenengesang und Bombenalarm. Die Lautsprecher erwachten vor der Sonne. Und sie begrüßten den Tag mit einem Mantra, einem außergewöhnlich kraftvollen, wichtigen, heiligen und mächtigen Mantra: Shanti Shanti Shanti. Und das bedeutet: Friede! Ich habe an jedem dieser verschlafenen Morgen einige Minuten lang fassungslos in die schallende Schrille geblickt, bis ich begriff, daß es eines besonders lauten, besonders durchdringenden Mantras bedarf, um aus Frieden heraus neuen Frieden zu finden. Denn Gott (Shiva zum Beispiel) ist Zerstörer und Erschaffer zugleich, und das Schwache muß mit starken Worten verteidigt werden.

    Mit Shanti wird nicht nur der Schlaf zerrissen, sondern auch das Gebet beendet. Die Wiederholung verdankt sich dem Glauben, daß sich alles, was dreifach ausgesprochen wird, verwirklicht – trivaram satyam (salopp übersetzt: Aller guten Dinge sind drei). Unglücklicherweise für jene, die auf dem Kumbh-Mela-Fest ein wenig länger schlafen wollten, besteht ein Mantra nicht nur aus dieser dreifachen Wiederholung. Mantras, deren Umfang von drei Wörtern bis hin zu seitenlangen Gedichten reichen kann, werden in Gebet und Meditation immer wieder gesprochen, in Zyklen der Wiederholung, die Mala genannt werden, nach der Gebetskette, auf der meist hundertacht Perlen aufgefädelt sind. Die Art und die Länge des Mala variiert je nach Anlaß, Ort und Familientradition. Anushthana heißt der Brauch einer genau vorgeschriebenen Zahl von Wiederholungen.
    Vor Jahren traf ich bei meinem Guru (siehe Kap. 3) in Bombay einen jungen Mann von knapp zwanzig Jahren, der kurz zuvor für drei Wochen nach Haridwar gereist war, dorthin, wo der Ganges sich der nordindischen Ebene ergibt. Er hatte in einem Tempel hundertfünfundzwanzigtausend Mal das Gayatri-Mantra (das wohl bekannteste Mantra Indiens, eine uralte Anbetung der Sonne, die auf unzähligen CDs und Musikkassetten festgehalten ist, für jene, denen das Aufsagen zu mühsam ist und die es deshalb vorziehen, das Mantra morgens elektronisch abzuspielen) wiederholt, was jeweils drei Stunden dauerte. In den Pausen dazwischen hatte er ein einfaches Mahl von Reis und Linsen zu sich genommen oder eine Weile geschlafen.
    Besonders beliebt ist es, ein Mantra aus zweiundfünfzig Zeilen zweiundfünfzig Mal zu sprechen. Wobei das Sprechen nicht immer so lauthals ausfallen muß wie bei der Kumbh Mela. Das Mantra kann in den Gedanken des Betenden widerhallen. Auch wäre es ein Mißverständnis zu vermuten, daß jedes Mantra einen klaren Sinn in sich trägt. Mananat
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