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Gebrauchsanweisung fuer Indien

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Indien
Autoren: Ilija Trojanow
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tryate iti mantra heißt es auf Sanskrit: Das, was dich schützt, wenn du daran denkst. Das Mantra zeichnet sich also durch seine Kraft aus, nicht durch seine Bedeutung; es ist ein Destillat von Erfahrung und Weisheit, ein potentes, konzentriertes Mittel. Deswegen sind westliche Besucher bzw. Leser oft enttäuscht, wenn sie die Übersetzung der magischen Formeln erfahren. Das wichtigste Mantra des tibetanischen Buddhismus etwa lautet Aum mani padme hum, wunderschön gesummt oder gesungen, und doch beeindruckt es in seiner wörtlichen Übertragung – ›Grüße an das Juwel des Lotus‹ – weitaus weniger. Selbst die Erklärung, daß es sich um eine Anrufung des allmächtigen Geistes handelt, der überall gleich ist, im Inneren des Menschen wie auch in allem, was um ihn herum geschieht, vermittelt nicht die Essenz des Mantras, so wenig wie ›Abrakadabra‹ von einem Wörterbuch zu entschlüsseln wäre.

    Kabir, der bekannteste mittelalterliche Dichter Indiens, ein Rebell, der nachträglich zum Heiligen verfälscht wurde, sehnte sich in jungen Jahren nach einem Mantra, das ihm den Weg zu seiner geistigen Entwicklung ebnen würde. Aber da seine Herkunft in seiner Geburtsstadt Varanasi suspekt war – er stammte aus niederen Verhältnissen, und es war nicht bekannt, ob er einer moslemischen oder einer Hindu-Familie entstammte –, wollte keiner der Priester, die er ansprach, ihn als Schüler aufnehmen, ihm sein Mantra anvertrauen. Denn jeder Lehrer besitzt ein eigenes, geheimes Mantra, das nicht nur von Generation zu Generation weitergereicht, sondern auch durch die Seelenstärke des Lehrers aufgeladen wird. Verzweifelt, aber nicht gewillt aufzugeben, legte sich der junge Kabir auf eine Stufe jener Treppen, die zum Ganges hinabführen und über die Tausende von Einheimischen und Pilgern täglich auf und ab schreiten, um ihr gesegnetes Bad im heiligen Fluß zu nehmen. Auch der bedeutendste Lehrer jener Zeit, Guru Ramananda, stieg jeden frühen Morgen diese Treppen hinab. Am nächsten Morgen, das Tageslicht war so schwach wie die Sicht des Lehrers, trat Guru Ramananda auf einen ausgestreckten Körper und stürzte über den jungen Kabir. »Ram, Ram«, rief Guru Ramananda erschrocken aus, worauf Kabir aufsprang, die Füße des Lehrers berührte und sich überschwenglich für das Mantra bedankte, das dieser ihm hatte angedeihen lassen. Zwar hatte der Lehrer das Mantra in einer Schrecksekunde unbedacht von sich gegeben, aber was immer der Grund gewesen sein mochte, auch wenn es erschlichen wurde, es war überreicht worden. Es galt in seiner ganzen Machtfülle nun auch für Kabir. Ein Leben lang begnügte er sich damit, beim Meditieren Ram, Ram zu intonieren, den Namen Gottes in einfacher Wiederholung. Diese Legende findet auch in heutigen Zeiten Nachahmer. Unweit von den sandigen Uferebenen, auf denen sich das Kumbh-Mela-Fest ausbreitet, lebte bis vor einigen Jahren ein Heiliger, der sein letztes Lebensjahrzehnt damit zubrachte, Ram Ram zu wiederholen, unentwegt, und jedes andere Wort verschmähte.

    Die Wiederholung eines Mantras führt in die Trance. Die Wiederholung des ›Money Mantra‹ führt laut einer Anzeige zu Artha (siehe Kap. 8), und die dauernde Wiederholung politischer Mantras führt zur Verdummung, wobei es keineswegs einem sprachkritischen Impetus zu verdanken ist, daß der Minister ›Mantri‹, und das Parlament ›Mantralaya‹ heißt.
    Da wir das Wort ›Mantra‹ Indien verdanken, erscheint es mir nur angemessen, daß Indien das Opfer unzähliger Mantras geworden ist. Denn Mantras dienen auch als Feigenblätter des Unwissens. Die erste heilige Kuh, die an dieser Stelle zu schlachten wäre, ist das Mantra von der Heiligkeit der Kuh. Keine Fernsehsendung über Indien ohne Kuh, vor allem nicht ohne Kühe, die sich durch den Straßenverkehr bewegen oder an einer befahrenen Kreuzung mampfen und somit kraft ihrer Existenz die Kontinuität des Traditionellen im urbanen, modernen Indien beweisen. Als ich Anfang 2006 mit einem deutschen Fernsehteam in Bombay einen kurzen Film drehte, hielt der Redakteur vor jeder Kuh und versuchte mich zu überzeugen, ich solle an ihr vorbeischlendern. Eine Kuh im Bild ist eben besser als tausend Gedanken. Die Sache mit der heiligen Kuh hat jedoch einen Haken: Die Kuh wird nicht angebetet, es gibt keinen Tempel, der einer Kuh geweiht ist, und es existiert kein Gott, der die Form einer Kuh besitzt. Gewiß, der Bulle Nandi trägt den Gott Shiva, aber unter den Reittieren der
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