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Gebrauchsanweisung fuer Indien

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Indien
Autoren: Ilija Trojanow
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wurden die Regenfälle, insbesondere im letzten Jahrhundert. Sollten die Temperaturen, wie von den meisten Klimamodellen vorhergesagt, weiterhin ansteigen, wäre mit noch stärkeren Niederschlägen zu rechnen. Und das Flutenbild wird sich Jahr für Jahr wiederholen: Die Flüsse schwellen innerhalb von Stunden an und reißen die unbefestigten Ufer wie schutzlose Opfer. Sie zerstören Tempel und Moscheen, Grundschulen und Wohnhäuser, sie zerren Kühe und Hunde mit sich, sie entwurzeln Bäume und verschonen nicht einmal die Pilger, die sich zu nahe an das heilige Wasser getraut haben.

    Während manche Landesteile, etwa der Norden Bihars mit seinen großen, vom Himalaja hinabströmenden Flüssen Kosi, Bagmati, Gandak, Burhi Gandak und Adhwara, alljährlich überschwemmt werden, müssen die Menschen anderswo, so im Punjab oder in Rajasthan, uralte Rituale wiederbeleben, um ihrer Verzweiflung Herr zu werden. Wenn sich die Dürre festgesetzt hat, werden vedische Zeremonien begangen, wie etwa die Yagna, einst ein Opferfest, bei dem Reichtum zelebriert wurde, indem er zerstört wurde. Eigentum wurde in göttliches Prestige umgesetzt. Das Yagna-Ritual hat etwas Gigantomanisches an sich, das kaum zu dem Leid in Dürrezeiten paßt. Über vielen Feuern kreisen stundenlang die Mantras (siehe Kap. 1), ein Gemisch aus Holz, Sesam und Ghee wird in die Flammen geworfen. Fast könnte man meinen, dieser rituelle Weg dauere so lang, weil die Tradition, an die angeknüpft wird, so weit in die Vergangenheit zurückreicht, für die Gläubigen bis in Urzeit zurück.
    Wer sich über die Anrufung der Götter lustig macht, sollte bedenken, wie wissenschaftlich ungewiß es ist, den Monsun vorherzusagen – trotz fünftausend meteorologischer Warten im ganzen Land. Immerhin wissen wir, wovon der Monsun abhängt: von den Windbewegungen in der nördlichen Hemisphäre, von der Schneedecke in Eurasien im Dezember, von den Temperaturen in Zentralindien im Mai, von dem Schneefall im Himalaja zwischen Januar und März, vom Luftdruck in der nördlichen Hemisphäre zwischen Januar und April, vom Luftdruck in Argentinien im April, vom Meeresspiegel bei Tahiti und von El Niño des jeweiligen sowie des vorhergegangenen Jahres, von den Tiefsttemperaturen in Nordindien im März, von dem Luftdruck über dem Indischen Ozean am Äquator, von den Windverhältnissen in Bilbao im Januar. Umstritten ist hingegen, welche Bedeutung die globale Erwärmung für die Monsunzyklen hat.
    Das Ausbleiben des Monsuns verändert alles: Die Frauen müssen ihr eigenes Vermögen, ihren seit der Hochzeit gehüteten Schmuck verkaufen, und ihre Männer sind gezwungen, halsabschneiderische Kredite aufzunehmen. Sie schreiben Petitionen an Gott, sitzen in ihren leeren Häusern und starren auf die Wände. Wenn das Bundesland, in dem sie überleben, den Notstand erklärt, wird eine staatliche Maschinerie in Gang gesetzt. Nothilfegelder werden bei der Zentralregierung beantragt, Zinszahlungen gestundet, Kreditrückzahlungen ausgesetzt, Bargeld an Bauern ausgezahlt und konkrete Hilfen für die Schäden versprochen und gelegentlich auch gewährt. Doch auch die Städte sind betroffen, denn die Wasserversorgung versiegt. In den Millionenstädten wird Wasser rationiert, nur jene Reichen, die sich über eigene Tanks auf dem Dach versorgen, können teures Wasser erwerben, das von Lastwagen angekarrt wird. In Bhopal trocknet der Upper Lake, aus dem die Stadt fast ihr gesamtes Wasser schöpft, in Dürrejahren völlig aus. Und in Bombay beschäftigen sich die Zeitungen ebenso genau mit den bedrohlich sinkenden Pegelständen der kleinen Seen im Norden der Stadt wie mit Aktienkursen und Kricketergebnissen.

    Eine überschwemmte Stadt ist ein unvergeßlicher Anblick. Die oberen Stockwerke der Gebäude ragen in die Kurzsichtigkeit des dichten Regens hinein wie graugewordene Nachtwächter, die sich mit letzter Kraft auf den Beinen halten. Die Straßen verwandeln sich in Kanäle (und gelegentlich in Wildwasserbäche), in denen die Menschen durch trübes, knietiefes Wasser waten müssen und Fahrradhäuser und Rikschas umgerissen werden. Tempel schließen ihre Türen, um der gurgelnden Hochachtung zu entgehen. Erdrutsche begraben die Hütten, die dort stehen, wo kein richtiges Gebäude errichtet werden kann. Die Behörden zucken mit den Schultern und verweisen auf ihre Warnungen an die Slumbewohner, nicht an solchen Stellen zu bauen, was so sinnvoll ist wie eine Empfehlung, sie mögen in ein Hotel
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