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Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)

Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)

Titel: Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Autoren: Eva Gruberová , Helmut Zeller
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seine Freunde besprechen die Neuigkeiten aus Budapest, rauchen und schauen vorbeigehenden jungen Frauen nach. In der Synagoge selbst ist Géza Steckler nicht sehr oft, eigentlich besucht er sie nur am Sabbat und natürlich an den hohen Feiertagen. Im Gegensatz zu den Anhängern des ultraorthodoxen Rabbiners Ansel Katz, die die meiste Zeit mit dem Tora-Studium verbringen, ereifert Géza sich viel lieber über Politik und Frauen. Und natürlich über den Krieg, der in diesen Jahren die Gedanken und Gespräche der Menschen beherrscht.
    Es ist ein Abend wie jeder andere, als Géza unter den Mädchen, die auf der anderen Seite des kleinen Parks stehen und den Jungen verstohlene Blicke zuwerfen, ein unbekanntes Gesicht entdeckt. Obwohl die jüdische Gemeinde von Dunajská Streda Anfang der 1940er-Jahre nach Schätzungen des in Israel lebenden Stadthistorikers Alfréd Engel etwa 3500 Mitglieder zählt, ist sie für jemanden wie Géza, der hier geboren und aufgewachsen ist, leicht überschaubar. Mit Ausnahme von einigen Mädchen aus streng religiösen Familien, die auch im Sommer in langen Ärmeln und Strümpfen auf die Straße gehen und mit Männern nie sprechen, kennt er alle jungen Frauen in der Stadt. Zwar ist Gézas Familie auch orthodox, sie gehört aber zu den Anhängern des religiös weniger strengen Rabbiners Hillel Weinberger. Die jüdische Gemeinde von Dunajská Streda bewahrte sich ihre traditionelle orthodoxe Ausrichtung trotz starker Reformströmungen, die nach dem Budapester Kongress 1868 zur Spaltung des ungarischen Judentums in einen reformierten, orthodoxen und sogenannten Status-quo-Flügel geführt hatte. Der schloss sich weder der reformierten noch der konservativen Fraktion an. Géza und seine Freunde wollen nicht nur am religiösen, sondern auch am gesellschaftlichen Leben der Stadt teilnehmen. Sie betrachten es als selbstverständlich, dass man sich abends mit den Mädchen aus der eigenen Gemeinde trifft und unterhält, zumal sich die meisten noch aus der jüdischen Schule kennen. Die Männer zeigen schon durch ihr Aussehen, welche Gruppe sie vertreten. Im Gegensatz zu den Katz-Anhängern, die lange Bärte, Peies und Hüte tragen, rasieren Géza und seine Freunde ihre Gesichter und lassen nur einen kleinen modischen Schnurbart stehen. Die verheirateten Frauen unterscheiden sich äußerlich kaum voneinander: Orthodoxe wie ultraorthodoxe verstecken, wenn sie aus dem Haus gehen, ihre Haare unter Perücken oder Kopftüchern. Nähere Beziehungen pflegen die Erwachsenen der beiden Gemeinden nur dann, wenn es Geschäftsangelegenheiten oder Probleme verlangen. Auch Kinder und Jugendliche treffen sich meistens nur mit solchen Gleichaltrigen, deren Eltern in dieselbe Synagoge gehen. Aber es ist ein gutes Leben für Mitglieder der beiden jüdischen Gemeinden. Sie fühlen sich in Dunajská Streda zu Hause. Die Juden stellen im Stadtrat so viele Mitglieder, dass zuweilen allzu lange Sitzungen des Gremiums unterbrochen werden müssen, damit sie ihre Gebete verrichten können.
    Géza sieht das zierliche Mädchen mit den langen Haaren und dunkelbraunen Augen heute zum ersten Mal. Die Fremde gefällt ihm, und er merkt, dass auch sie zu ihm herüberschaut. Das Mädchen, höchstens 17 oder 18 Jahre alt, kommt ihm anders vor als die jungen Frauen, die er bis jetzt kannte. Sie trägt zwar wie alle Mädchen aus strenggläubigen Familien ein Kleid mit langen Ärmeln, und auf ihrem Kopf sitzt ein eleganter Hut. Doch ihre Begleiterinnen gehören der Weinberger-Gemeinde an. Sie läuft auch nicht weg, als Géza und seine Freunde die Straßenseite wechseln, um die jungen Frauen zu grüßen. Ihr ungewöhnliches Verhalten macht Géza neugierig. Er versucht, mit der hübschen Unbekannten ins Gespräch zu kommen. Wie viele in Dunajská Streda spricht er Ungarisch, aber auch fließend Deutsch. Das Mädchen schweigt und lächelt verlegen. Enttäuscht merkt er, dass sie kein Wort versteht. Nervös zupft sie an ihrem kleinen Hut und greift mit ihrer Hand immer wieder nach ihrem Haar. Doch sie schaut ihm unbefangen in die Augen. Wie kann er ihr nur verständlich machen, dass er sie bald wieder treffen möchte? Als sie geht, wirft er ihr einen langen Blick zu und hofft, dass sie versteht. Eva Schwartz wird ihn ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Gézas Blick wird sie heraufbeschwören, als sie zweieinhalb Jahre später bei eisiger Kälte in einer verlausten, schmutzigen Baracke im Lager liegt. «Viele Männer standen damals auf der
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