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Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen
Autoren: Boris Koch
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Pick-pick-pick.«
    Und er aß auf, noch den kleinsten Rest der Roten Bete. Die Schale war leer, die Geschichte zu Ende, sein Bauch aber und sein Kopf waren voll. Dass er so gut aufgegessen hatte, erfreute seine bubbeh, auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von wahrer Liebe zu ihm. In jenen vertraulichen gemeinsamen Momenten am wackeligen Esstisch der Familie waren sie, zwei Generationen voneinander entfernt, vereint und teilten sich Nahrung für Herz und Seele.
    Ein Jahrzehnt später wurde die Familie Setrakian aus ihrer Tischlerei und ihrem Dorf vertrieben. Allerdings nicht von Sardu. Sondern von den Deutschen. In ihrem Haus wurde ein Offizier einquartiert. Dieser Mann, milde gestimmt durch die vorbehaltlose Güte seiner Gastgeber, die mit ihm genau an jenem wackeligen Tisch ihr Brot teilten, warnte sie eines Abends eindringlich, am folgenden Tag keinesfalls den Anweisungen Folge zu leisten, sich am Bahnhof einzufinden, sondern noch in dieser Nacht Haus und Dorf zu verlassen.
    Was sie dann auch taten - die gesamte achtköpfige Familie floh mit allem, was sie gerade eben noch tragen konnten. Bubbeh jedoch verlangsamte die Flucht. Schlimmer noch - sie wusste, dass sie ihr Tempo drosselte, sie aufhielt, sie wusste, dass ihre Anwesenheit die ganze Familie in Gefahr brachte, und daher verfluchte sie sich und ihre alten, müden Beine. Die übrige Familie ging schließlich irgendwann voraus - alle bis auf Abraham. Er war inzwischen ein kräftiger, vielversprechender junger Mann, in seinem jugendlichen Alter bereits ein meisterlicher Holzschnitzer sowie ein aufmerksamer Talmud-Schüler mit einem besonderen Interesse am Sohar, den Geheimnissen der jüdischen Mystik. Abraham wich nicht von ihrer Seite und blieb mit ihr zurück. Doch als sie erfuhren, dass die anderen in der nächsten Stadt verhaftet worden waren und einen Zug Richtung Polen hatten besteigen müssen, bestand seine von Schuldgefühlen geplagte bubbeb darauf, dass sie sich um seinetwillen stellte.
    »Lauf, Abraham. Flieh vor den Nazis. So wie vor Sardu. Rette dich!«
    Aber davon wollte er nichts wissen. Er wollte nicht von ihr getrennt werden.
    Am nächsten Morgen fand er sie auf dem Fußboden des gemeinsamen Zimmers im Haus eines mitfühlenden Bauern. Sie war in der Nacht aus dem Bett gefallen, mit kohlrabenschwarzen, sich häutenden Lippen, die Kehle dunkel angelaufen bis zum Hals, verendet an dem Rattengift, das sie genommen hatte. Mit der großzügigen Erlaubnis seiner Gastgeber beerdigte Abraham Setrakian sie unter einer blühenden Sandbirke. Geduldig schnitzte er ihr ein wundervolles hölzernes Denkmal voller Blumen und Vögel und all den Dingen, die sie am glücklichsten gemacht hatten. Und er weinte, weinte um sie - und dann lief er.
    Er rannte um sein Leben, flüchtete vor den Nazis und hörte dabei die ganze Zeit ein Pick-pick-pick hinter seinem Rücken ...
    Das Böse war ihm dicht auf den Fersen.
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