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Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen
Autoren: Boris Koch
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mit den Insektenscheren zu. »Er ist tot, ja. Es musste sein, er hätte uns beide getötet, und es schien mir sinnvoller, dass Ihr nur ein Kind verliert und nicht zwei. Ich habe alles versucht, um ihn zur Vernunft zu bringen.«
    Wieder einen winzigen Schritt voran, und noch einen. Eine der Scheren öffnete sich, eine Wurzel verfing sich in Lisas Haar, sie wanderte über ihre Kopfhaut wie der tastende Rüssel einer Fliege, nur war die Wurzel um vieles größer. Lisa schrie nicht, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte.
    Immer mehr Wurzeln und wurmartige Dinger, dünn wie Schnürsenkel oder dick wie ein Schiffstau, tauchten aus der Erde in den Raum, schwangen um sie herum wie ein neugieriger Schwarm, betasteten sie.
    Lisa achtete nicht mehr auf das, was Sandy sagte, sie versuchte alles zu verdrängen, um nicht auszurasten und irr sabbernd zu Boden zu stürzen. Sie konzentrierte sich nur auf das, was sie zu tun hatte. Der atmende Boden unter ihren Füßen fühlte sich an wie die schuppige Haut eines Reptils, sie versuchte nicht daran zu denken, über was sie da schritt. Sie spürte sein Auf und Ab, das Vibrieren und das Schlagen eines Herzens. Immer deutlicher konnte sie es wahrnehmen, es war unangenehm, genau darauf zuzulaufen. Sein Herzschlag setzte sich in ihr fort wie ein Schlag, den man auf den Musikantenknochen erhielt. Ihr ganzer Körper vibrierte stechend im Rhythmus seines Herzens.
    Das Maul erwartete sie, alle vier Scheren waren nun geöffnet, waren bereit, sie zu umarmen. Lisa ließ die Furcht nicht an sich heran, achtete nur auf das Pochen unter ihren nackten Fußsohlen.
    Und dann, als sie das Herz des Blutvaters überquert hatte, als sie gerade einen halben Schritt darüber hinweg war, umklammerte sie mit beiden Händen die Fackel, sprang hoch und zog die Beine an.
    In den toten weißen Augen der dämmernden Kreatur zeigte sich keine Reaktion, doch die Scheren schnappten zu, dem Maul entwich ein Zischen.
    Zu spät.
    Die Spitze der Fackel, mit der sie bis vor kurzem noch in der Erde gesteckt hatte, traf auf die Brust der Kreatur, direkt über dem Herzen. Mit aller Kraft hielt sich Lisa fest, legte all ihr Gewicht in den Stoß mit diesem improvisierten Speer. Sie schrie auf, als die Fackel auftraf und das Seil in ihr Fleisch schnitt. Sie brüllte und wünschte nichts sehnlicher, als dass sich die Fackel durch seine Haut bohren mochte, hinein in sein Herz. Ein Herz, das eigentlich aus Stein sein müsste.
    Auch Sandy hatte zugegriffen und drückte den Eisenpfahl mit aller Macht auf die schuppige Haut oder den Panzer der Kreatur. Es knackte, und die Fackel drang hinab, bohrte sich in das schlagende Herz. Zähflüssiges Blut spritzte heraus, ergoss sich heiß und beißend über Lisas gefesselte Hände und ihren Rücken. An die Fackel gebunden, sackte sie mit ihr hinab, saß schließlich auf dem Boden, dem Bauch des Blutvaters, und zerrte an dem lockeren Knoten, riss sich die Stoffstreifen von den Händen und mit ihnen ein paar Hautfetzen. Der Pfahl war gesetzt, sie musste raus zum wartenden Feuer. Der Boden atmete, das Blut auf ihren Händen brannte. Panik packte sie, sie wollte weg, fort von hier. Sie kämpfte sich auf die Beine, Reste der Fesseln noch um das rechte Handgelenk geschlungen.
    Die bizarren, saugenden Wurzeln und die wurmartigen Gliedmaßen schlugen nach ihr, peitschten ziellos und wild umher. Die Kreatur zuckte und schrie. Sie schrie, dass es die ganze Stadt im Mark erschüttern musste, so viel Schmerz und Wut, Leid und Hass steckten in dem Schrei. Hunderttausend Tode und zahllose Alpträume steckten in diesem Schrei, ein Schrei wie ein Sturm, und er traf Lisa mit ungeheurer Wucht. Sie wurde von ihm umgerissen und hatte das Gefühl, ihr Kopf müsste platzen. Vollkommen benommen lag sie auf dem Boden, der noch immer atmete, sich noch immer hob und senkte und nicht sterben wollte.
    Irgendwas schlug nach ihr, riss ihr die Kleider in Fetzen und Striemen in die Haut, die Haut vom Fleisch und Haar vom Kopf. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, sie konnte sich nicht wehren, nur alles über sich ergehen lassen.
    Sie wurde gepackt und über den Boden geschleift, der mit jedem Augenblick heftiger atmete. Etwas zerrte sie zum Ausgang, etwas anderes schlang sich um ihren Knöchel und hielt sie fest. Sie strampelte, schlug um sich, konnte das Ding um ihren Knöchel abschütteln, presste die Hände auf die Ohren und schrie ebenfalls. Auch wenn ihre Brust zu bersten schien, klang ihr
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