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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Mario Frank
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nachträglich davon erfuhr, dass der Vater während seiner Abwesenheit »unter Aufsicht eines englischen und eines polnischen Verbindungsoffiziers … ehemalige pol 38 nische Zwangsarbeiter auf Frachtschiffen in ihre Heimat zurückzubringen« hatte.
    Zweieinhalb Jahre, von Ende 1943 bis Sommer 1946, lebten Olga Gauck und ihre Kinder also wieder die meiste Zeit vom Vater getrennt. Immerhin waren die Eltern so oft zusammen, dass Olga erneut schwanger wurde und im April 1945 ihr drittes Kind, Eckart, gebar. Aus den letzten Kriegsmonaten, Joachim Gauck war jetzt fünf Jahre alt, blieben einige Eindrücke aus dem nationalsozialistischen Alltag im Gedächtnis des Jungen haften. In seinen Erinnerungen beschrieb er, wie er oft mit seinen beiden kleinen Holzpanzern gespielt habe, einer mit grün-bräunlicher Tarnfarbe bemalt, der andere anthrazitgrau. Er bekam bereits mit, wie im Radio weiterhin Erfolgsmeldungen der Wehrmacht verkündet wurden, während die Deutschen im Osten wie im Westen auf dem Rückzug waren. Ende 1944 hatte Joachim seinen ersten öffentlichen Auftritt im Rahmen einer Weihnachtsfeier, organisiert von der nationalsozialistischen Frauenschaft, wie er vermutete: »Ich vermochte ein ganzes Weihnachtsgedicht aufzusagen, ohne mich zu verhaspeln und ohne zu stocken: ›Von drauß', vom Walde komm ich her …‹.« Als Anerkennung bekam er vom Weihnachtsmann seinen dritten Holzpanzer geschenkt.
    Als Anfang Mai 1945 die Rote Armee auch nach Wustrow kam, reagierten die Menschen wie fast überall in Deutschland. Sie distanzierten sich von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und tilgten die Spuren, die auf eine Nähe zu den bisherigen Machthabern hindeuteten. Sie wussten, das hätte sie in Zukunft benachteiligt. Im Zuge dessen entsorgte Oma Antonie vorausschauend die Hakenkreuzfahne ihres Enkels Joachim. Der war über den Verlust der geliebten Fahne entsetzt und verstand die Welt nicht mehr. Es half nichts, Oma warf sie samt Fahnenstock 39 ins Feuer des Waschkessels. Um ein Haar hätte sie auch noch die Holzpanzer ihres Enkels verbrannt.
    Von den Soldaten der Roten Armee hatten die Bewohner des Fischlandes Grauenhaftes gehört. Dass keine Frau vor ihnen sicher war und dass sie plünderten, was nicht niet- und nagelfest war. Überall in der sowjetischen Besatzungszone kam es nach dem Krieg zu massenhaften Vergewaltigungen durch die Sieger. Die Mädchen und jüngeren Frauen in Wustrow waren in größter Sorge und auf das Schlimmste gefasst. Wann immer es ging, hielten sie sich aus Angst vor Übergriffen versteckt. War es unumgänglich, auf die Straße zu gehen, malten sich viele ihre Gesichter schwarz an, in der Hoffnung, sich damit vor der befürchteten Vergewaltigung durch einen Rotarmisten schützen zu können. Olga Gauck, die im April gerade ihr drittes Kind entbunden hatte, blieb zu ihrem Glück von einem derartigen Gewaltverbrechen verschont. In der anderen Hälfte des Doppelhauses, in dem sie wohnte, hatte sich ein sowjetischer Major einquartiert, der denselben Eingangsflur benutzte wie die Gaucks. Olga war darüber zwar zunächst entsetzt, doch die Anwesenheit des Offiziers schreckte die einfachen Soldaten ab, die nachts ausschwärmten und auf Beutefang gingen. Joachim Gauck erinnerte sich an den hilfreichen Offizier: »Der Major liebte uns Kinder von Herzen, nahm uns auf den Arm, das war zwar unangenehm, denn er roch nach Wodka, aber er lachte und schenkte uns Brot.«
    Weniger glimpflich verlief die Besetzung Wustrows für Gaucks Großmutter Antonie. Die Sowjets entschieden, in ihrem Haus einen Ausguck auf die Ostsee zu errichten, und requirierten das Gebäude zu diesem Zweck. Beschwerden waren zwecklos, Antonie Gauck musste sich eine neue Unterkunft im Dorf besorgen. Sie ahnte nicht, dass diese 40 Beschlagnahmung auf eine faktische Enteignung hinauslaufen und sie ihr Haus nie zurückbekommen sollte. Rücksichtslos warfen die neuen Hausherren das Hausinventar aus den Fenstern oder zerstörten es: Möbel, Kleidungsstücke, Bücher. Eine Bronzestatue aus dem Haushalt von Antonie Gauck fand sich später in einer örtlichen Kneipe wieder. Der Wirt hatte sie angeblich in einem Graben gefunden.
    Mit der sowjetischen Besatzung begann die bislang härteste Zeit für die Familien Gauck und Warremann. Joachim Gaucks Cousin Jörn-Michael Schmitt berichtete, wie sein Vater damals für seine Kinder Sandalen aus Autoreifen bastelte, weil es keine Schuhe zu kaufen gab. Die Mutter spann zur selben Zeit Wolle von
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