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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Mario Frank
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Schafen, die die Familie hielt. Die daraus gestrickte Kleidung »juckte fürchterlich«. Jörn-Michael Schmitt schüttelte sich noch Jahrzehnte später. Auch Lebensmittel waren knapp. Die Rotarmisten requirierten, was sie zu ihrer eigenen Versorgung brauchten, und plünderten, was ihnen in die Hände fiel. Hinzu kamen massenhaft Flüchtlinge aus Ostpreußen und Pommern, die aus den ohnehin reduzierten Ressourcen ernährt werden mussten. Olga Gauck hatte es unter diesen Umständen als alleinerziehende Mutter schwer, sich und ihre Kinder durchzubringen. Ihr Sohn Joachim schrieb in seinen Memoiren: »Das Essen war knapp. Bald gab es keinen Zucker mehr, kein Brot, kein Mehl, nicht einmal Salz.« Gaucks Schwester Marianne konnte sich zwar nicht an das Gefühl von Hunger erinnern. Wohl aber an bestimmte »Notgerichte«, die es damals gab, wie »Ersatzschmalz, das nach Thymian schmeckte, oder Brotsuppe«. 41

Umzug nach Rostock
    Aus dieser Notsituation heraus zog Olga Gauck mit ihren drei Kindern Ende 1945 wieder zu ihren Eltern nach Rostock-Brinckmansdorf. Die Warremanns konnten in ihrem großen Garten Tiere zur Eigenversorgung halten: Hühner, Bienen und eine Ziege, die in der Garage untergekommen war. Gaucks Cousin Jörn-Michael erinnerte sich lieber an den Honig, den es bei seinen Großeltern gab, als an die Ziegenmilch und Ziegenbutter, die nach seinem Empfinden entsetzlich schmeckten. Der sechsjährige Joachim und seine anderthalb Jahre jüngere Schwester Marianne gingen zusammen mit anderen Kindern zum Ährensammeln auf abgeerntete Felder in der Umgebung. Die aufgesammelten Getreidereste wurden dann an die Hühner verfüttert. Auch die eine oder andere Kartoffel fanden sie auf diese Weise. Gelegentlich plünderten Joachim und seine Cousins nach Angabe von Jörn-Michael Schmitt in den Feldern auch ein Rebhuhnnest, um die Eier zu Hause zu braten. In der Regel waren diese aber in einem Zustand, in dem sie zum Verzehr nicht geeignet waren und unangenehm stanken.
    Franz Warremann hatte in der sowjetischen Besatzungszone als angeblicher »Kriegsgewinnler« keine Chance, wieder als Unternehmer tätig zu werden. Als ehemaliger Selbständiger erhielt er keine Rente und musste sich notgedrungen wie zu Beginn seiner Karriere wieder als Handwerker durchschlagen. Bauern lieferten ihm dazu in großen Mengen Buchenholz aus den umliegenden Wäldern an, das er mit einer Kreissäge auf seinem Grundstück zu Brennholz verarbeitete und dann verkaufte. Gaucks Großvater war ein mächtiger, übergewichtiger Mann mit gewaltigem Bauch, der gern Bier trank, das seine Enkelin Marianne für ihn mit einer Kanne frisch aus einer Kneipe in der Nähe ho 42 len musste. Vor allem aber war Franz Warremann ein hemmungsloser Esser, der sich von dieser Leidenschaft auch dann nicht abbringen ließ, als er herzkrank wurde. Sein Enkel Jörn-Michael Schmitt meinte dazu: »Er hat Selbstmord mit Messer und Gabel begangen.« Gaucks Großvater starb im April 1957 an Herzversagen, seine Frau Luise überlebte ihn fast um ein Vierteljahrhundert.
    Im August 1946 kehrte Gaucks vermisster Vater endlich nach Hause zurück. Sein ungewisses Schicksal und das lange Warten auf ihn hatten auf der Familie gelastet. Der Kriegsheimkehrer war mit Ausnahme der Zeit in Gotenhafen fast nie bei seiner Familie gewesen und für seine Kinder praktisch ein Fremder. Im Rostocker Hafen fand er schnell eine Beschäftigung als einfacher Arbeiter. Es war eine gute Arbeit, denn sie bot ihm ab und an die Gelegenheit, Überlebenswichtiges für die Familie zu organisieren. Mal einen Sack voll Kohlen, ein anderes Mal einen großen Beutel mit Zucker. Die Kinder durften ihn mit dem Teelöffel essen, wie sich Marianne Gauck bis heute erinnert, es schmeckte ihr wie ein Gericht des Himmels. Bald darauf fand Gauck senior eine feste Anstellung als Arbeitsschutzinspektor für Schifffahrt in Rostock.
    Im selben Jahr, als der Vater aus dem Krieg heimkehrte, begann für Joachim die Schulzeit. Ganz in der Nähe des Hauses seines Großvaters war eine Behelfsschule eingerichtet worden. Es handelte sich dabei um zwei Wohnhäuser, die für Schulzwecke umgebaut worden waren, später kam noch eine Holzbaracke als Schulraum hinzu. Die Schüler saßen hier auf einfachen Bänken und gingen bei Bedarf auf ein Plumpsklo. Heute kaum vorstellbar: Die Kinder sammelten im Wald und auf den umliegenden Wiesen für ihre Schule Kräuter und Brombeerblätter, aus denen dann Tee gemacht wurde. Wie groß die Not damals war,
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