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Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Gauck: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauck: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Mario Frank
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Dieser Säuglingsratgeber wurde im ganzen Reich den Schulungen angehender Mütter durch die NS -Frauenschaft, der Frauenorganisation der NSDAP , zugrunde gelegt, die von mehreren Millionen Frauen besucht wurden. Bis zum Ende des Krieges erreichte das Buch eine Auflage von fünfhunderttausend Exemplaren und hatte maßgeblichen Einfluss auf die Erziehung und die Entwicklung einer großen Zahl während des Dritten Reichs geborener Kinder. Auch nach 1945 war das Buch in vielen Haushalten der Bundesrepublik zu finden und erreichte eine Gesamtauflage von 1,2 Mil 32 lionen Exemplaren. Gaucks Schwester Marianne bekräftige nachdrücklich: »Von diesem Buch war unsere Mutter sehr beeinflusst.« Joachim Gauck fand das Buch später im Bücherschrank seiner Eltern. In seinen Erinnerungen berichtete er in einer merkwürdig distanzierten Form, wie seine Mutter, beeinflusst durch diesen Ratgeber, mit ihm als Säugling umgegangen war.

    8  Der Säugling
    Haarers Erziehungsratgeber war Teil der Rassenideologie der Nationalsozialisten. Manche Passagen ihres Buches knüpften unmittelbar an die Erziehungsvorstellungen von Adolf Hitler in Mein Kampf an, in denen es vor allem um die »rassische Qualität des gegebenen Menschenmaterials« und um das »Heranzüchten kerngesunder Körper« ging. Um diese Ziele zu erreichen, empfahl die Autorin einen spartanischen Erziehungsstil. Dazu gehörte etwa der Ratschlag, den Säugling nach der Geburt vor dem ersten Stillen erst einmal ein bis zwei Tage lang hungern zu lassen. Wenn das Baby schrie, sollte seine Mutter mit Nichtachtung darauf reagieren, das Kind irgendwo abstellen und sich selbst überlassen.
    Wie unzählige andere deutsche Mütter auch, stellte Olga Gauck ihren Erstgeborenen also regelmäßig in seinem Kinderwagen im Garten ab und ließ ihn dort schreien, ohne auf die Proteste des Babys einzugehen. Doch statt sich an die erzieherischen Prognosen der Ratgeberautorin zu halten, schrie der Junge dort offenbar unverdrossen weiter. Gaucks sechs Monate älterer Cousin, Gerhard Schmitt, erinnerte sich: »Wir waren immer zusammen auf der Wiese im Garten der Großeltern Warremann. Er war ein Schreikind, hat oft gebrüllt. Vor allem hatte er ständig Hunger. Er war völlig verfressen und wollte immer auch meine Portionen haben.« Gaucks Schwester Marianne bestätigte diesen Eindruck: »Als Einjähriger war er ziemlich dick. Er fraß gera 33 dezu. Später hat er mir immer meine Flasche weggenommen und ausgetrunken, kaum hatte ich sie abgesetzt.«

    9  Immer hungrig
    Der Junge war noch kein Jahr alt, als sein Vater zur Kriegsmarine eingezogen wurde und von da an jahrelang nur noch im Urlaub zu Hause war. Tageweise, bestenfalls für wenige Wochen. Wie schon sein Vater wuchs auch Joachim Gauck in seinen ersten, für die Entwicklung besonders wichtigen Lebensjahren weitgehend ohne seinen Erzeuger auf. Das war im Krieg nichts Außergewöhnliches, schon gar nicht in der Kolonie der Wustrower Kapitänsfamilien. »Seeleute waren immer abwesend«, erinnerte sich Gaucks Schwester Marianne, »unsere ganze Kindheit waren nur Frauen mit Kindern um uns.« 34
    Unterstützung beim Großziehen ihres Sohnes und seiner Geschwister fand Olga Gauck bei ihrer Mutter und der ihres Mannes, Antonie Gauck. Dabei war das Verhältnis von Schwiegertochter und Schwiegermutter wie so oft nicht spannungsfrei. Beide waren selbstbewusste Frauen, die ihren eigenen Kopf hatten. Im Familienkreis hielt sich die Erinnerung, dass Joachim Gaucks Großmutter sich als etwas Besseres gefühlt und eine »Gutsherrenmentalität« an den Tag gelegt habe. Das musste zu Konflikten mit der energischen und machtbewussten Olga Gauck führen. Antonie Gauck war vier Jahre vor ihrem einzigen Kind nach Wustrow gezogen und lebte nur wenige Gehminuten von der Wohnung ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter entfernt. Sie hatte sich am Rande des Ortes direkt am Meer das »Haus am Deich« bauen lassen und verdiente ihren Lebensunterhalt mit der Vermietung von Ferienzimmern. Auch diese Immobilie ist von Bedeutung für Joachim Gauck. Heute befindet sich dieses Anwesen wieder im Familienbesitz, nachdem es in der DDR zwangsweise verpachtet worden war. Gaucks Schwestern Marianne und Sabine vermieten es an Feriengäste, wie ihre Großmutter es schon siebzig Jahren zuvor getan hatte. Regelmäßig nutzen die Gaucks das Haus auch selbst, um hier Urlaub zu machen oder für Familientreffen.
    Im zweiten Halbjahr 1943 war Gauck senior ausnahmsweise für ein paar
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