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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Autoren: Anne Perry
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keine schnellen Bewegungen zulassen. Außerdem würde jeder sie als Frau erkennen, wodurch sie umso verletzlicher wurde.
    Dunkelheit senkte sich über das Wasser, und das gegenüberliegende Ufer war nur noch anhand der dort brennenden Laternen auszumachen. Lagerhäuser und Lastkrane ragten schwarz und mächtig in den Himmel, und nach der Wärme des Tages trieben feine Dunstschleier über das Wasser und absorbierten das letzte Licht.
    Ein dumpfer Schlag von Holz auf Stein ertönte. Das war Orme, der mit einem der Polizeiboote anlegte. Aus den Schatten tauchte ein zweites Boot auf. Dort hockte auf der Bank im Heck Sutton, neben ihm kauerte sein Hund Snoot.
    Vom Kai her näherten sich Schritte. Rathbone durchquerte den Strahl der Lampe vor der Polizeiwache. Ihm folgte widerstrebend Sullivan, die Schultern verkrampft hochgezogen, die Augen wie Löcher tief in den Schädel eingesunken.
    Keiner sprach mehr als einen kurzen Gruß. Sutton nickte Rathbone zu. Sicher erinnerte er sich daran, wie sie vor ein paar Monaten auf der Jagd nach einem Mörder zusammen in die Kanalisation eingedrungen waren und mit großem Glück das Tageslicht lebend wieder erreicht hatten.
    Rathbone erwiderte das Nicken. Ein düsteres Lächeln flackerte kurz über sein Gesicht, ehe er sich darauf konzentrierte, die nassen, glitschigen Stufen zu den Booten hinunterzuklettern. Die Boote waren jeweils mit vier Wasserpolizisten besetzt, die die Ruder bedienten. Sobald alle saßen, glitten sie auf das reglose Wasser hinaus. Der Fluss hatte seinen Tiefststand erreicht und wartete auf das Einsetzen der Flut. Bis auf das stete Knirschen der Ruderschäfte in den Dollen ertönte kein Laut.
    Niemand sprach. Alles war längst gesagt, sämtliche Pläne waren erörtert und beschlossen. Sullivan kannte den Preis der Verweigerung und den noch schlimmeren des Verrats. Dennoch beobachtete Hester, die neben Monk im Heck des zweiten Bootes kauerte, die dunkle Gestalt des Richters. Dieser Mann strömte eine Verzweiflung aus, die sie nicht minder deutlich wahrnahm als den über das ölige Wasser heranwehenden scharfen, säuerlichen Geruch von Abfällen. Man hatte ihn in die Enge getrieben, und sie war auf seinen Gegenangriff gefasst. Irgendetwas hatte vor langem jedes Mitgefühl in ihm abgetötet, sodass er völlig unberechenbar und menschlichen Regungen letztlich nicht mehr zugänglich war.
    Zu einer anderen Zeit hätte sie ihn vielleicht als einen unvollständigen Menschen bedauert. Doch jetzt konnte sie nur noch an Scuff denken, der allein und verängstigt war. Da er intelligent war, wusste der Junge genau, was Phillips ihm antun würde. Bestimmt war ihm auch klar, dass Monk nichts unversucht lassen würde, um ihn zu retten. Doch genauso hatte er längst durchschaut, dass ihr und Monks Scheitern die Ursache seiner Notlage war. Phillips hatte sie geschlagen. Verhöhnt hatte er sie, und jetzt war er ihnen entwischt und konnte seine Geschäfte ungehindert weiterbetreiben. Jedes Mal war Philipps der Sieger gewesen. Scuff war ein Kind voller Hoffnung und Zuversicht, aber auch von den Entbehrungen und Misserfolgen seines bisherigen Lebens geprägt. Überleben und Sterben waren nur durch einen hauchdünnen Schleier voneinander getrennt.
    Sie konnte und mochte sich nicht ausmalen, was Scuffs Tod bei Monk anrichten würde. An ihrer Seite spürte sie Monk. Da auch er in dicke Kleider gehüllt war, drang seine Wärme nicht zu ihr durch, aber in ihrer Erinnerung war sie gegenwärtig. Sie versuchte, sich etwas zu überlegen, das sie im Fall der Fälle sagen oder tun konnte, mit dem sie dann zu der Wunde in seiner Seele durchdringen konnte, aber es gab einfach nichts. Die Dunkelheit im Inneren war kälter und dichter als alles andere auf dem Wasser um sie herum. Sie konnten sich keine Irrtümer mehr leisten. Jede Fehleinschätzung, jedes Zögern, ja sogar Gnade würde erbarmungslos bestraft.
    In der eigenartigen Ruhe vor dem Gezeitenwechsel kamen sie rasch voran. In wenigen Minuten würde die Flut wieder einsetzen, stromaufwärts an Geschwindigkeit zunehmen, immer vehementer an den Steinstufen lecken, die vor Anker liegenden Schiffe emporheben, die hungrige See in die Stadt tragen und das Treibgut von Leben und Tod zurückbringen.
    Sie hatten schon fast den Sufferance Wharf am Südufer erreicht. Verschwommen tauchten die Konturen eines etwa fünfzehn Meter vor der Kaimauer ankernden Bootes auf. Deutlich zu sehen waren nur die Laternen an Bug und Heck. Bis auf gelegentliche Schritte
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