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Furor

Furor

Titel: Furor
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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Schlafzimmer gewesen war. Auch dort herrschte ein übersichtliches Chaos. Das Bett war noch zerwühlt von der letzten Nacht, die sein Vater darin verbracht hatte. Der Wecker war stehen geblieben. Es war ein altmodischer Wecker zum Aufziehen. Für seinen Vater waren Uhren zum Aufziehen eine der genialsten Erfindungen der Menschheit gewesen. Mit einer winzigen Energiemenge, hervorgerufen durch eine kleine Bewegung von Daumen und Zeigefinger, ließ sich die Zeit in Stunden und Minuten strukturieren. Das stand für die Kraft des menschlichen Geistes. Zum gleichen Zweck Unmengen von Energie aufzuwenden, noch dazu bei einem unglaublich miesen Wirkungsgrad, war für ihn ein Symbol für Dummheit und Ignoranz. Sebastian hatte das überzeugt, und er hing sehr an seiner aufziehbaren Taschenuhr.
    Lannert betrachtete die Aktenordner, die in Reih’ und Gliedin einem der Regale standen, und begann dann, sie einzeln herauszunehmen und durchzusehen, während sich Sebastian in den bequemen Bürosessel seines Vaters setzte. Ganz oben auf dem Schreibtisch vor ihm lag ein Buch. Vermutlich war es eines der letzten Dinge, die sein Vater noch in der Hand gehabt hatte. Neben dem in schwarzes Kunstleder gebundenen Buch lag ein Pumpfüller mit schwarzer Tinte. Die Kappe war nicht aufgesetzt, die Tinte auf der Feder eingetrocknet.
    Er musste sich überwinden, das Buch aufzuschlagen. Es war, als würde er tief in die Privatsphäre seines Vaters eindringen – was ihm zuvor nicht im Traum eingefallen wäre. War das jetzt in Ordnung? Es war seltsam, in den Unterlagen eines Toten zu schnüffeln. Und: War sein Vater denn wirklich tot? Ein Tod auf Raten. ›Das Leben ist ein Sterben vom Augenblick der Geburt an.‹ Wer hatte das gesagt? Es war kein tröstlicher Gedanke. Sebastian schüttelte sich, als könnte er das Unbehagen, das sich leise eingeschlichen hatte, so wieder loswerden.
    Das Buch schien eine Art Tagebuch zu sein. Er erkannte die Handschrift seines Vaters sofort. Die Notizen waren auf den ersten Blick nicht sehr aufschlussreich, manches war kaum zu lesen, nur einzelne Worte, Namen und Zahlen konnte er identifizieren: National Institute of Medicine, Bethesda, Maryland und Def. Begrf.; Korrel. Mentaler Ereignisse und elektrischer Signale. Dahinter ein Datum, das etliche Jahre in der Vergangenheit lag.
    Die Angaben bezogen sich auf ein für seine Hirnforschung berühmtes Institut. Die zweite Zeile wies vermutlich auf ein Seminar oder einen Vortrag hin, den sein Vater dort gehalten hatte, denn es ging um ein Thema, für das er sich am Anfang seiner Karriere interessiert und zu dem er auch einige Abhandlungen verfasst hatte. Auf der zweiten Seite war der Institutsname noch einmal zu lesen, außerdem noch ein Name, F. Wallroth . Offensichtlich hatte sein Vater sich Termine notiert, zudenen jemand über ein interessantes Thema berichtet oder er selbst einen Vortrag gehalten hatte. War das Buch nur ein Terminkalender? Den Namen Wallroth kannte Sebastian gut, ein Kollege seines Vaters, der seit Ewigkeiten am Wilder-Penfield-Institut arbeitete. Für Sebastian war Wallroth, solange er denken konnte, eine Art väterlicher Freund gewesen.
    Sebastian blätterte jetzt schneller weiter und schlug dann willkürlich irgendwelche Seiten auf. Er stieß dabei immer nur auf Variationen desselben Themas: Termine, Instituts- und Personennamen. Dann stach ihm plötzlich etwas rot in die Augen. Er blätterte zurück. Da war es. Ein roter Kreis um drei Worte: Dennett widerlegt, Theater . Er schaute auf das Datum der Seite. Aber er wusste schon, welcher Tag es sein würde. Es war der Tag, an dem sein Vater den Beweis dafür gefunden hatte, dass es einen Ort im Gehirn gab, an dem viele der für eine einheitliche, bewusste Wahrnehmung notwendigen Informationen zusammenliefen.
    Lange Zeit hatte man erwartet, im Gehirn einen solchen Ort zu finden, eine Art Kinoleinwand, auf der ein Film mit Ton- und Geruchsspur ablief. Der amerikanische Philosoph Daniel C. Dennett hatte diesen Ort als Cartesianisches Theater bezeichnet und behauptet, es gäbe ihn nicht. In dem Sinne, in dem der Begriff ihn ursprünglich beschrieb, gab es ihn tatsächlich nicht. Es gab keinen Ort, an dem alle Informationen zusammen liefen. Aber es gab eine Art Kanal, den fast alle Informationen durch liefen. Sein Vater hatte ihn entdeckt, und die kleine Hirnregion war nach ihm benannt worden: der Raab’sche Kanal . Christian Raabe hatte sich in seiner Euphorie dazu hinreißen lassen, dem Fund in
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