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Furor

Furor

Titel: Furor
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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wusste ja nie. Er würde sie bei nächster Gelegenheit mitnehmen, wenn er eine Tasche dabei hatte. In den Hosenbund wollte er sie jedenfalls nicht stecken.
    Er sah zu den Türmen der Liebfrauenkirche hinüber. Die Zeiger der Uhren waren von hier aus nicht genau zu erkennen. Entweder zehn nach zwölf . . . aber das konnte nicht sein. Dann also vierzehn Uhr. In einer Stunde war er mit Lannert in der Wohnung seines Vaters verabredet.
    Seine Gedanken kehrten zu der Pistole zurück. Hatte sein Vater sich bedroht gefühlt? Sebastian machte sich noch einen Kaffee. Das Pochen im Kopf war verschwunden. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und legte die Pistole mit dem Tuch zurück in die Schublade. Es fiel ihm schwer. Sollte er die Waffe nicht doch mitnehmen? Er versuchte, sich zu entspannen. Dann bemerkte er, dass von draußen ein Schwall dreckiger Luft hereinkam und den Kaffeeduft verdrängte. Er trank in Ruhe die Tasse leer, stand auf und schloss das Fenster. Dann schaltete er den Computer aus und verließ das Büro.
    »Kannst du nicht vorstellen. Sterben Kinder an Hunger in meine Heimat.«
    Der Besitzer der kleinen koreanischen Imbiss-Stube redete aufgeregt auf Sebastian ein.
    »Weißt du noch, was US-Präsident einmal gesagt hat? ›Wir kennen das wahre Gesicht von Nordkorea. Rüstet sich mit Massenvernichtungswaffen aus und lässt gleichzeitig seine Bürger verhungern.‹ Hundert Gramm Getreide bekommen die Kinder dort nur noch am Tag.«
    »Ja, das ist schlimm«, bestätigte Sebastian abwesend, während er seinen Seoul-Burger aß. Er hätte den Imbiss gern rasch wieder verlassen, wollte seinen Besitzer aber nicht vor den Kopf stoßen. Der Gedanke an hungernde Kinder verdarb ihmden Appetit. Eigentlich hatte er Doo Dong-won mit seinen Geschichten über die Heimat ja ins Herz geschlossen. Aber heute war ihm das alles zu viel.
    Der Koreaner schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann schaute er stirnrunzelnd an Sebastian vorbei zur Tür. Sebastian folgte seinem Blick und sah gerade noch, wie jemand aus dem Eingang verschwand.
    Fünf Minuten später stieg Sebastian die Treppe zu seiner Wohnung im Herzen des Münchner Westends hinauf. Sonst war er sehr froh über den Aufzug, der ihn normalerweise in den fünften Stock brachte. Aber heute benutzte er lieber die Treppe.
    In der Wohnung warf er seine Jacke auf den Wohnzimmertisch, schleuderte sich die Turnschuhe von den Füßen und ging ins Bad, um sich die Reste des Burgers von den Händen zu waschen. Ein Blick in seinen Kühlschrank: Mehr als ein Bier ließ sich darin nicht finden. Sebastian öffnete die Flasche und setzte sich an den Küchentisch. Lustlos blätterte er eine Weile im Feuilleton der ›Süddeutschen Zeitung‹. Dann wurde es Zeit für das Treffen mit Lannert.
    Als er das Appartment von Christian Raabe betrat, spürte Sebastian die Präsenz seines Vaters noch stärker als in dessen Büro. Schuhe standen überall im Flur, auf der Kommode stapelte sich die Post. Die Wohnung war dank der Putzfrau sauber, aber total unordentlich. Am Kühlschrank hing ein Zettel, auf dem sein Vater notiert hatte, was einzukaufen war. Das ist doch seltsam, dachte Sebastian. Er schreibt auf, dass ihm Butter, Käse und Wurst fehlen, und dann geht er los und bringt sich um?
    Es klingelte. Sebastian drückte auf den Türöffner, trat dann ans Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Hinter der Scheibe und von einer riesigen Topfpflanze halb verdeckt, wirkte die Welt dort draußen wie der Inhalt eines riesigen Terrariums.Man hatte eine fantastische Aussicht über die Stadt. In der Ferne ragten die Türme, die verschiedene Versicherungen und Banken in den letzten zehn Jahren um den Stadtkern herum hochgezogen hatten, in die Höhe. Ein dunkler Punkt stand zwischen zwei Hochhäusern und wurde immer kleiner. Ein Hubschrauber, der wie ein Insekt zwischen den Bäumen eines Waldes herumschwirrte.
    Sebastian schaute auf die Uhr. Die große Standuhr im Wohnzimmer zeigte genau fünfzehn Uhr. Mors certa hora incerta war in das Ziffernblatt eingraviert. Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiss. Außer man bringt sich selbst um, dachte Sebastian.
    Es klopfte an der Tür. Sebastian begrüßte Lannert, der legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn ernst an.
    »Okay, Sebastian. Dann packen wir’s mal an«, sagte er. Er lockerte sich die Krawatte und zog das Jackett aus. Vermutlich war er direkt aus der Kanzlei gekommen.
    Gemeinsam betraten sie Christian Raabes privates Büro, das zugleich sein
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