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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912
Autoren: Thomas Mann
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Rundschau
in vielen Einzelheiten umgeschrieben, und zwar mit intensivierter Wirkung: Es ergab sich unter anderem einer der eindrucksvollsten Sätze im Gesamtwerk Thomas Manns (vgl. den Kommentar zu Textband S. 504). Bei anderen Erzählungen wurden punktuelle Änderungen vorgenommen, Wörter und Sätze gestrichen, Formulierungen leicht geändert, ein Personenname oder eine musikalische Tonart durch andere ersetzt, ein Schluss konziser gemacht. Dass es manchmal scheinbar geringfügige Änderungen sind, dient nur zum Beweis dafür, wie penibel der junge Autor seine Wirkungen kritisch zu überwachen fortfuhr.
    Einige Beispiele: Im zweiten Kapitel von
Tonio Kröger
, als Erstdruck 1903 in der
Neuen deutschen Rundschau
erschienen, lautete der Text ursprünglich, Ingeborg Holm müsse zum draußen vor dem Tanzsaal stehenden Tonio kommen, »wenn auch nur aus Mitleid, ihm ihre
liebe
Hand auf die Schulter legen und sagen: Komm herein, sei froh, ich liebe Dich.« (S. 122; Hervorhebung wie im Folgenden) In der Fassung des
Tristan
-Bandes, ebenfalls 1903 erschienen, steht nur mehr: »ihre Hand« (S. 190; hier Textband S. 260). So ist die Wiederholung in enger Nachbarschaft von »liebe« als Adjektiv und als Verb entfallen. Auch konnte die allenfalls bei Tanzübungen, nie in intimer Freundschaft berührte Hand der Angebeteten vielleicht noch nicht mit vollem Recht eine »liebe Hand« heißen. Damit nicht genug, was diese Hand betrifft: Als sich in Dänemark die Erlebnisse aus seiner Jugendzeit typologisch wiederholen, ist dem reifen Tonio erneut, als müsse die Ingeborg-Figur zu ihm herauskommen, »ihm heimlich folgen, ihm« – so der Erstdruck – »
ihre
Hand auf die Schulter legen und sagen: Komm herein zu uns« (S. 150). In {595} der Buchausgabe hingegen ist auch nur die Intimität der Formulierung »ihre Hand« dem Autor anscheinend zu viel, es heißt nunmehr einfach: »die Hand« (S. 260; hier Textband S. 315). In dieser späten Episode war übrigens auch anfänglich vom »diebische[n] Genuß« die Rede, »hier
heimlich
im Dunklen stehen und ungesehen Die belauschen zu dürfen, die im Lichte tanzten« (S. 146). In der Buchausgabe heißt es nur mehr »hier im Dunklen« (S. 252; hier Textband S. 308). War das Stehen im Dunklen selbstverständlich »heimlich« genug und musste nicht ausdrücklich so bezeichnet werden? Oder hat vielleicht das zusätzliche Wort die sonst genaue rhythmische Balance des Kontrasts – »im Dunklen stehen/im Lichte tanzen« – gestört? Oder beides?
    Freilich: über die Gründe, die einen Autor zu Änderungen bewegen, kann man nur spekulieren: So könnte auf jeden Fall ein sorgfältiger Schriftsteller empfunden haben. Auch kann man sich gerade noch vorstellen, dass allen diesen Änderungen nicht Absichten des Autors, sondern Satzfehler beim Druck der Buchausgabe zugrunde gelegen haben – handelt es sich doch meistens um weggelassene, nie um eingefügte Wörter. Höchstens ist einmal die Ersetzung eines Possessivpronomens durch einen Artikel (»ihre« / »die«) im Spiel. Nur finden sich diese Änderungen gerade an emotionalen Schlüsselstellen, wo es besonders wichtig war, den passenden Ton zu treffen, den richtigen Eindruck zu vermitteln. Die Unterschiede mögen auf den ersten Blick geringfügig erscheinen. Durch solche Sorgfalt weist sich aber ein Stilist aus: An der Nachlässigkeit des Setzers werden diese geänderten Details wohl nicht gelegen haben. Übrigens hat Thomas Mann selber der jeweiligen Buchausgabe ein größeres Gewicht beigemessen als dem Erstdruck. Bezeichnend ist, dass er 1905 auf Vorhaltungen der
Rundschau
-Redaktion hin bereit war, den Schluss von
Wälsungenblut
in der Zeit {596} schriftenfassung zu ändern, und zwar im Hinblick auf eine Buchausgabe, wo der von ihm vorgezogenen Fassung »wieder ihr Recht werden« könnte (an Heinrich Mann, 5.12.1905; GKFA 21, 336). Die von Thomas Mann für die jeweilige Buchausgabe durchgeführten Änderungen wurden denn auch alle kanonisch. Sie nunmehr im Namen eines automatisch greifenden Erstdruckprinzips rückgängig machen zu wollen hieße, fertige Kunst auf ihre vorletzte Entstehungsstufe zurückzuversetzen und einem der bewusstesten Stilisten deutscher Sprache ins Handwerk zu pfuschen.
    Maßgebend für die Textkonstitution der vorliegenden Ausgabe war also der Begriff einer ersten Arbeitsphase, aus der ein vom Autor wohl erwogener und fortan von ihm als gültig angesehener Text hervorgegangen ist. Das gilt für die in den
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