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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912
Autoren: Thomas Mann
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sich selbst mit Fingern wiesen.
    Wir vier, das heißt der kleine, braunlockige, bewegliche Meysenberg, Laube, der blutjunge, blonde, idealistische Nationalökonom, welcher, wo er ging und stand, über die gewaltige Berechtigung der Frauenemanzipation dozierte, Dr. med. Selten und ich, – wir vier also hatten uns in der Mitte des Ateliers auf den allerverschiedensten Sitzvorrichtungen um den schweren Mahagonitisch gruppiert und sprachen seit geraumer Zeit dem vortrefflichen Menü zu, das der geniale Gastgeber für uns komponiert hatte. Mehr noch vielleicht den Weinen. Meysenberg ließ wieder mal was draufgehn.
    Der Doktor saß in einem großen, altertümlich geschnitzten Kirchenstuhl, über den er sich beständig in seiner scharfen Weise lustig machte. Er war der Ironiker unter uns. Welterfahrung und -Verachtung in jeder seiner wegwerfenden Gesten. Er {15} war der Älteste unter uns vieren. Wohl schon um die dreißig herum. Auch hatte er am meisten »gelebt«. »Wüscht!« sagte Meysenberg, »aber er ist amüsant.«
    Man konnte dem Doktor das »Wüscht« in der That ein wenig ansehen. Seine Augen hatten einen gewissen verschwommenen Glanz, und das schwarze, kurzgeschnittene Kopfhaar wies am Wirbel bereits eine kleine Lichtung auf. Das Gesicht, welches in einen spitz zugeschnittenen Bart verlief, zeigte, von der Nase zu den Mundwinkeln hinablaufend, ein paar spöttische Züge, welche ihm manchmal sogar einen bitteren Nachdruck verleihen konnten. –
    Beim Roquefort waren wir schon wieder mitten in den »tiefen Gesprächen«. Selten nannte es so, mit dem wegwerfenden Hohne eines Mannes, welcher es sich, wie er sagte, »längst zur einzigen Philosophie gemacht hat, dies von der betreffenden Regie da oben wenig umsichtig inscenierte Erdenleben völlig frag- und skrupellos zu genießen, um dann die Achseln zu zucken und zu fragen: »Besser nicht?«
    Aber Laube, auf geschickten Umwegen richtig in sein Fahrwasser gekommen, war schon wieder ganz außer sich und gestikulierte von seinem tiefen Polsterstuhl aus verzweifelt in der Luft herum.
    »Das ist es ja! Das ist es ja! Die schmachvolle soziale Stellung des Weibes (er sagte nie »Frau«, sondern immer »Weib«, weil sich das naturwissenschaftlicher machte) wurzelt in den Vorurteilen, den blöden Vorurteilen der Gesellschaft!«
    »Prosit!« sprach Selten sehr sanft und mitleidig und goß ein Glas Rotwein hinunter.
    Das nahm dem guten Jungen die letzte Ruhe.
    »Ach Du! ach Du!« fuhr er in die Höhe, »Du alter Cyniker! Mit
Dir
ist ja nicht zu
reden
! Aber Ihr«, wandte er sich herausfordernd an Meysenberg und mich, »Ihr müßt mir recht geben! Ja oder nein?!«
    {16} Meysenberg schälte sich eine Orange.
    »Halb und halb ganz gewiß!« sagte er mit Zuversicht.
    »Nur weiter«, ermunterte ich den Redner. Er mußte sich wieder erst einmal auslassen, eher gab er doch keinen Frieden.
    »In den blöden Vorurteilen und der bornierten Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sage ich! All die Kleinigkeiten – ach Gott, das ist ja lächerlich. Daß sie da nun Mädchengymnasien einrichten und Weiber als Telegraphistinnen oder so was anstellen, – was hat das zu sagen. Aber im Großen, im Großen! Welche Anschauungen! Etwa was das Erotische, das Sexuelle anbelangt, welche beschränkte Grausamkeit!«
    »So«, sagte der Doktor ganz erleichtert und legte seine Serviette weg, »nun wird’s wenigstens amüsant.«
    Laube würdigte ihn keines Blickes.
    »Seht«, fuhr er eindringlich fort und winkte mit einem großen Dessertbonbon, den er hernach mit wichtiger Gebärde in den Mund schob, »seht, wenn zwei sich lieben und er führt das Mädchen ab, so bleibt
er
ein Ehrenmann nach wie vor, hat sogar ganz schneidig gehandelt, – verfluchter Kerl das! Aber das
Weib
ist die
Verlorene
, von der Gesellschaft
Aus
gestoßene,
Vervehmte
, die
Gefallene
. Ja, die Ge-fal-le-ne! Wo bleibt der moralische Halt solcher Anschauung?! Ist der Mann nicht gerade so gut
gefallen
? Ja, hat er nicht ehrlo-
ser
gehandelt als das Weib?! … Na, nun redet! Nun sagt was!«
    Meysenberg sah nachdenklich dem Rauch seiner Cigarette nach.
    »Eigentlich hast Du recht«, sagte er gutmütig.
    Laube triumphierte über das ganze Gesicht.
    »Hab’ ich? hab’ ich?« wiederholte er nur immer. »Wo ist die sittliche Berechtigung zu solchem Urteil?«
    Ich sah Doktor Selten an. Er war ganz still geworden. Während er mit beiden Händen ein Brotkügelchen drehte, blickte {17} er mit jenem bitteren Gesichtsausdruck schweigend vor
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