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Frostengel

Frostengel

Titel: Frostengel
Autoren: Tamina Berger
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könnte?«
    Ich gab mir einen Ruck. »Haben Sie es bei Leon Thalmayer schon probiert?«
    »Leon geht in eure Stufe, oder? Ich rufe gleich einmal bei Thalmayers an. Danke, Theresa. Und wenn du was von Julia hörst, dann …«
    »... dann melde ich mich sofort, na klar.«
    »Danke, Theresa«, sagte Frau Mechat noch einmal und legte auf.
    Leon. Wer, wenn nicht er, könnte wissen, wo Julia war? Leon war ein komischer Kauz, ein Einzelgänger. Er hatte, soweit ich wusste, keine Freunde. Zumindest in unserem Jahrgang nicht. Zwar wurde er anfangs, nachdem er vor einem Jahr zu uns gekommen war, von den meisten Mitschülern um seine eigene Wohnung beneidet, doch die Begeisterung legte sich schnell, weil Leon keinen von uns einlud und schon zu Beginn des Schuljahres unmissverständlich klargemacht hatte, dass seine Wohnung nicht für Feten zur Verfügung stand.
    Leon hing nicht mit den anderen Jungs zusammen, baggerte keine Mädchen an. In den Pausen stand er immer alleine rum und betrachtete das Treiben um sich. Und beobachtete Julia.
    Für Julia war das typisch, dass sie davon nichts mitbekam, schließlich war sie immer damit beschäftigt, beschäftigt zu sein. Julia merkte nicht, dass er uns auf Schritt und Tritt verfolgte. Ich schon. Als ich sie einmal darauf ansprach, lachte sie und meinte, ich solle mit der Spinnerei aufhören, er sei doch total harmlos. Und abgesehen davon habe er sie noch nie angesprochen.
    »Hey, er geht in unsere Stufe. Klar, dass wir uns am Flur oder am Schulhof ständig über den Weg laufen«, hörte ich immer noch ihre Worte.
    »Und wie kommt es, dass er immer dann im Grätzel auftaucht, wenn wir dort sind? Oder letztens im Einkaufszentrum, was wollte er denn da?«, fragte ich. Mir war Leon echt unheimlich. Aber Julia hatte recht. Er sprach weder sie noch mich an, im Grätzel saß er allein an seinem Tisch, nippte an einer Cola und tat so, als würde er lesen. Und natürlich begegnete man sich in einem so kleinen Kaff wie unserem überall. Schrecklich viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gab es hier nicht. Trotzdem. Leon folgte uns, davon war ich überzeugt. Und vielleicht wusste er tatsächlich etwas, was Julias Mutter weiterhelfen könnte. Ich würde so einiges verwetten, dass er am Samstagabend im Grätzel war. Genau wie Julia.
    Aber konnte es wirklich wahr sein? Julia war verschwunden? Die Fragen hämmerten in meinem Kopf. Was hatte sie überhaupt im Grätzel gewollt, ohne mich? Wieso hatte sie sich nicht, wie immer seit der Sache mit Melissa, abholen lassen?
    Ich trat vor Wut gegen den Schrank. Verdammt, Julia! Der Schmerz in meinem Fuß tat gut. Wie konnte sie einfach ohne ein Wort verschwinden! Wenigstens mir hätte sie etwas sagen können, wenn sie wirklich hatte abhauen wollen. Ich setzte mich aufs Bett. Ich musste nachdenken. Aber die Gedanken in meinem Kopf waren wirr, als hätte jemand ein Puzzlespiel mit tausend Teilen durcheinandergeschüttelt, und ich hatte keine Ahnung, wie ich nun Ordnung in das Chaos bringen sollte.
    Ich hörte, dass Corinna die Musik abdrehte. Sie sprach mit unserer Mutter, die es offensichtlich geschafft hatte aufzustehen. Die Wohnungstür schloss sich mit einem dumpfen Knall. Wer war gegangen? Egal.
    Das Zuschlagen der Tür löste mich aus der Starre. Innerhalb von Minuten zog ich mich an. Wahrscheinlich, nein sicher sogar war ich im Begriff, eine Riesendummheit zu begehen. Möglicherweise würde sich aus der Grippe eine ausgewachsene Lungenentzündung entwickeln, wenn nicht sogar Schlimmeres. Aber alles war besser, als nur herumzusitzen, abzuwarten und nichts zu tun.

Kapitel 3
    Es ist dumm, sich die Haare zu waschen, wenn man Fieber hat. Noch dümmer ist es, in meinem Zustand rauszugehen.
    Ich kämpfte mich mit gesenktem Kopf durch die Stadt, bis ich die Straße gefunden hatte, in der Leon wohnte. Die Hausnummer wusste ich nicht, also ging ich von Haus zu Haus, studierte die Klingelschilder und hoffte, dass ich irgendwo seinen Namen entdecken würde.
    Es war bitterkalt und mittlerweile hatte es auch zu schneien begonnen. Normalerweise mochte ich Schnee. Ich fand es faszinierend, dass jede Schneeflocke sich von der anderen unterschied. Jede war ein kleines Kunstwerk, etwas Einzigartiges, fast so wie die menschliche DNS oder ein Fingerabdruck. Auf meinen fieberheißen Wangen schienen die einzelnen Flocken schneller als sonst zu schmelzen.
    Selbst mit meiner dicken Jacke und dem Schal, den ich mir um den Kopf gewickelt hatte, fror ich. Wie sinnlos mein
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