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Fröhliche Zeiten

Fröhliche Zeiten

Titel: Fröhliche Zeiten
Autoren: Oliver Hassencamp
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Unterdrückung empfinden. Und an der Kürze, am Trend, um sprachlich im Bild zu bleiben, nicht zuletzt am technischen Vorsprung des großen Bruders. Was anderswo erfunden wurde, kann im Land noch keinen eigenen Namen haben. Man übernimmt beides, Sache und Bezeichnung, oder kombiniert. So entstehen Mischbegriffe wie Freizeit-Ranch, Heimwerker-Shop, Einkaufs-Center.

    Mehr als dreißig Jahre, bevor die Bezeichnung geprägt wurde, gab es in München ein solches Einkaufs-Center, wo sich greifnah beisammen fand, was bis dahin viele Wege erfordert hatte: die Möhlstraße. Hier konnte man alles kaufen, wenn man’s bezahlen konnte. Amerikanisch war der Umschlagplatz nur dem Großteil der Waren nach, ansonsten eher ein osteuropäischer Markt, voll merkantiler Romantik wie aus Chagalls Kindheitserinnerungen, ein verpflanztes Ghetto ohne feste Preise. Der endgültige Warenwert wurde in tastendem Dialog zwischen Verkäufer und Käufer ausgehandelt. Geschäft als Sport und Abenteuer — eine verlorene Welt, in der es menschelte.
    Da man sich gegenseitig zu überzeugen trachtete, entfiel der dumme Snobismus, nur das Teuerste zu nehmen, waren Schlagfertigkeit, Witz, ja Charme unerläßlich. So kam man einander näher. Kein Verkäufer spielte den Beleidigten, wenn ein Interessent das Gesuchte als zu teuer rügte. Nirgendwo wurde Seriosität durch Arroganz vorgetäuscht. Eine Zugabe kündigte das Limit an.
    »Wenn Sie’s nehmen, schenk ich Ihnen noch a Paar Socken dazu .«
    Geschicklichkeit ist am Ende ehrlicher als kalkulierter Betrug. Am Schluß hatten beide Seiten ihr Erfolgserlebnis. Die Möhlstraße war ein kurioses Paradies, eine Erdbeere im Reisrand aus Trümmern. In den Vorgärten der ehedem noblen Straße reihte sich Bretterbude an Bretterbude. Die meisten mit Schaufenstern, verglast, ohne Sprünge, eine Seltenheit. Auch die Gehsteige dienten als Auslage. Kisten und Tische quollen von Waren über; in Vitrinen lag Fleisch mit dem Vermerk Koscher.
    Da es sich bei den Händlern und einem Teil ihrer Kundschaft um sogenannte displaced persons handelte, um rehabilitierte Minderheiten aus den Ostgebieten, ließ sich der Handel mit Waren, die es für Deutsche offiziell nicht gab, nicht als Schwarzhandel abtun. Straftaten konnte die deutsche Polizei nur vermelden, wenn sie Münchner Bürger beim Einkauf erwischte. Immer wieder gab es Razzien — in Samthandschuhen gewissermaßen. Denn die Händler pochten temperamentvoll auf ihr wiedererlangtes Recht, verwahrten sich gestenreich gegen Diffamierung und alle sprachen sie deutsch. Wir mußten den Umgang mit der galizischen Mentalität erst wieder lernen. Ein gewöhnlicher Schwarzhändler verlangte einen überhöhten Preis. Das war normal. In der Möhlstraße kam noch ein psychologisches Moment hinzu, ein Kaufanreiz von eigener Logik. Ich erinnere mich an einen Obststand, vor dem drei Kisten mit Orangen, dieser lang entbehrten Köstlichkeit, in ansprechender Schrägneigung den Blickfang bildeten. In der linken Kiste befanden sich kleine Orangen, in der mittleren größere und leuchtende Prachtexemplare in der rechten. Alle drei Güteklassen waren durch Preisschilder unterschieden. Das Pfund zu 10,- 20,- und 30,- Mark, um es vereinfacht zu sagen.
    Nun lagen in der Zehn- und in der Zwanzig-Mark-Kiste je eine aufgeschnittene Hälfte. Nichts dergleichen in der Dreißiger-Kiste. Ich fand das sozial. Auch weniger kaufkräftige Kunden sollten sehen, daß das für sie Erschwingliche von lohnender Qualität sei. Bei der Güteklasse eins verstand sich das von selbst. Während ich dastand und überlegte, kam in schwarzem Hut, schwarzem Bart, mit Schläfenlocken und schwarzem Mantel ein Rehabilitierter daher. Nach kurzem Blick in die Kisten rascher Zugriff. Er hielt die aufgeschnittenen Hälften aus der Zehn- und Zwanzig-Mark-Kiste gegeneinander. »Paßt« sagte er, lachte laut, legte beide in die Dreißig-Mark-Kiste und ging weiter.
    Vom Reiz dieser Denkweise fasziniert, erstand ich ein Pfund zu dreißig Mark, ließ es im eigens mitgebrachten Trompeten-Formkoffer verschwinden und konnte nicht widerstehen, mich noch einmal umzudrehen.
    Richtig: gerade nahm der Händler die beiden Hälften aus der teuren Kiste und legte sie an ihre Plätze zurück.
    Wie gesagt, alle Händler sprachen deutsch. Mehr nach Gutdünken als nach Duden, mehr jiddisch in vielen Varianten. Auf der Schaufensterscheibe einer winzigen Konditorei stand ein Werbespruch, der mir im Gedächtnis geblieben ist:

    Kuchen und Torten,
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