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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
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35 Jahren. Er war im Vorjahr eine Treppe hinuntergestürzt, was nach der Darstellung von Friedrichs Schwester Elisabeth eine Gehirnerkrankung zur Folge hatte und letztlich zum Tod führte. «Gehirnerweichung» nannte man das; vermutlich war es ein Tumor. Elisabeth war äußerst daran interessiert, eine rein physische Ursache für Krankheit und Tod des Vaters zu finden und damit auch das geistige Erbe des Bruders, das sie auf einschlägige Weise verwaltete, in eine grundlegend «gesunde» Richtung zu führen. Der frühe Tod seines Vaters und seine nur nebulösen Erinnerungen an ihn führten dazu, dass Friedrich Nietzsche diese Vaterfigur idealisierte und alles Streben nach Höherem in sich selbst als sein Vater-Erbe verstand. In seinem autobiographischen Rechenschaftsbericht «Ecce homo» schreibt Nietzsche: «Ich betrachte es als ein großes Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben; es scheint mir sogar, daß sich damit alles erklärt, was ich sonst an Vorrechten habe – das Leben, das große Ja zum Leben nicht eingerechnet. Vor allem, daß es für mich keiner Absicht dazu bedarf, sondern eines bloßen Abwartens, um unfreiwillig in eine Welt hoher und zarter Dinge einzutreten; ich bin dort zu Hause, meine innerste Leidenschaft wird dort erst frei. Daß ich für dies Vorrecht beinahe mit dem Leben zahlte, ist gewiß kein unbilliger Handel.» Der Vater also stand für die «Welt hoher und zarter Dinge» , vornehme Geistigkeit, Auserwähltheit und – unumgängliche Mitgift solcher Erwähltheit – problematische Sensibilität. Der Dekadenztheoretiker Nietzsche weiß, dass das eine nicht ohne das andere sein kann. Über das «große Ja zum Leben» wird noch zu sprechen sein. Auch das ist problembehaftet, hat wenig mit natürlicher Lebenszugewandtheit zu tun oder was man sich sonst unter einem solchen Ausdruck wohl vorstellen mag. Und geistige Vorrechte, die man «mit dem Leben bezahlt», was «kein unbilliger Handel» ist, sondern seinen Preis völlig wert, hat nun auch seinen spätromantisch-stigmatisierenden Nimbus. Das Genie spricht.
    Nietzsches Idealisierung des Vaters in Abwesenheit scheint umso notwendiger, als der Knabe fortan und bis zum Eintritt in das berühmte Eliteinternat Schulpforta in einem reinen Frauenhaushalt aufwuchs – und was für einem: Zwei alte Jungfern, unverheiratete Tanten aus der väterlichen Linie, auch sie Frömmlerinnen und karitativ engagiert, hatten sich bereits dem jungen Familienhaushalt in Röcken angeschlossen und diesen mehr oder weniger dominiert. Nun reisten sie mit nach Naumburg, wo die junge Witwe des Pastors Nietzsche mit Sohn und Tochter – ein weiteres Brüderchen war mit zwei Jahren gestorben – in den großmütterlichen Naumburger Haushalt umzog. Nietzsches Frauenbild ist in späteren Jahren an negativer Einschlägigkeit beinahe unüberbietbar – und man will meinen, wider besseres Wissen, denn hat er nicht eine Frau, und zwar nur sie, die «Russin» Lou Salomé, einmal zu seiner geistigen Erbin und «Fortdenkerin» erklärt? (Nachdem sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte und der Bruch vollzogen war, wollte er freilich davon nichts mehr wissen.) In seiner allerdings bereits den Zusammenbruch ankündigenden Spätphilosophie ist die Frau schließlich gewissermaßen Sinnbild der Dekadenz, da sie im Untergrund herrscht und mit den Priestern im Bunde ist, den anderen einflussreichen Dekadenz-Repräsentanten, die das Starke und Mächtige durch fragwürdige Mitleidsund Altruismuslehren von innen aushöhlen, also es unterminieren. «Das Weib» , heißt es bei ihm in einem Nachlassfragment, von der Schwester betitelt: «Der Wille zur Macht», «hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die ‹Mächtigen›, die ‹Starken›, die Männer –» «Männlich» – was war das? Der schwärmerisch gemütvolle Vater, der so nahe am Wasser gebaut hatte, entsprach dieser Traditionsvorstellung von «starker» und «mächtiger» Männlichkeit kaum. Aber in dem vertrockneten Naumburger Frauenhaushalt hat Nietzsche sicher gespürt, welche subtile Beziehungsmacht von den Frauen ausgehen kann. In seiner emotionalen Entwicklung ist ihm das zum Verhängnis geworden, im Falle der Schwester, ihren Intrigen und Einmischungen noch in sein späteres Leben, war er sogar völlig wehrlos dagegen. Die Mutter scheint harmloser. Franziska Nietzsche, geborene Oehler, war ebenfalls eine Pfarrerstochter. Mächtig stolz war sie mit ihren erst siebzehn Jahren,
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