Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
Vom Netzwerk:
Gefühlsunterdrückung und Affektbeherrschung seines häuslichen Umfeldes. Dieses viel zu früh in eine bedenkliche Selbstzucht genommene Kind konnte sich innerlich ausleben in solchen Bildern von grellen Blitzen und dunklen Fluten, Naturkatastrophen, Kriegsschlachten. Es spielte Feldherr, Ritter und Held, wenn auch mehr für ein Selbstgefühl als in Aktionen – sicher nicht ungewöhnlich für einen Jungen, der mit dem entsprechenden Zubehör aufwächst: Bleisoldaten, Papierkulissen und Schlachtschiffen nach dem Baukastenprinzip und dafür gemacht, die militärischen Auseinandersetzungen der Zeit, den Krimkrieg zum Beispiel, der hoffnungsvollen Jugend als Spielmodell vorzuführen. Bei diesem Jungen war es aber mehr als ein Spiel. Es waren Ersatzwelten, in die er sich flüchtete, lebenslang, weil Emotionen brachlagen. Als Hochbegabter verfügte er freilich noch über eine extrem starke Einbildungskraft, überfeine Antennen. Er erzählte es in seiner jugendlichen Lebensbeschreibung, wie er in Röcken nicht lange nach dem Tod seines Vaters – fünf Jahre war er da alt – nachts den Traum hatte, dass der Vater im Sterbekleid dem Grab entstieg, um aus der Kirche ein kleines Kind zu holen, das er mitnahm ins Grab. Am nächsten Tag war sein kleines Brüderchen tot. Gespenstergeschichten schrieb und vertonte er auch, mit furchterregenden Bildern und Klängen. Am liebsten improvisierte er am Klavier bei Gewitter. In der Schule lernte er schließlich die nordische Sagenwelt kennen. Auch bei den heidnischen Göttern und Helden, die die Christus-Lehre im Norden nicht auslöschen konnte, gab es Nahrung und Stoff, überreich – musste das nicht seine christliche Frömmigkeit schon etwas relativieren? Und irgendwie waren die gewaltigen Mächte ja wertfrei und außermoralisch – am Ende aber war alles Musik, Nietzsches Himmelsmacht ohne Himmel. Der Knabe schrieb damals über die «Edda»: «Die Götterdämmerung, wo die Sonne schwarz wird, ins Meer versinkt und Glutwirbel den allnährenden Weltenbaum umwühlen und die Lohe den Himmel leckt, sie ist die grandioseste Erfindung, die je das Genie eines Menschen ersann, unübertroffen in der Literatur aller Zeiten, unendlich kühn und furchtbar und doch sich in bezaubernden Wohlklängen auflösend.» Die «bezaubernden Wohlklänge» sind eine schöne Wunschphantasie, eine Erlösungssehnsucht der romantischen Art; vielleicht hat der empfängliche Schüler da schon seinen späteren Lebensabschnittshelden Richard Wagner und dessen Stoffvertonungen antizipiert. Irgendjemand in der Familie erzählte ihm – vielleicht war es auch seine eigene Erfindung, jedenfalls gab er sich mit der zwei Jahre jüngeren Schwester derartigen Phantasien hin –, dass der väterliche Zweig seiner Familie, und nur der zählte ja letztendlich, von einem polnischen Grafen abstamme. Graf Nietzky, das war doch ebenfalls äußerst wohlklingend, und es steigerte noch das Gefühl der Auserwähltheit bei Friedrich Nietzsche. Seine Realität war ein Haushalt, in dem die Kreuzer gezählt wurden. Gottesfurcht, Demut, Bescheidenheit waren die ihm vermittelten Werte, Fleiß und Leistung das, was er zurückgeben musste. Als er vierzehnjährig im Haus am Weingarten Nr. 18 in der einstigen, nunmehr säkularisierten Bistumsstadt Naumburg mit den schönen Bürgerhäusern und den einprägsamen Darstellungen der Leidensgeschichte Christi in den Sandsteinreliefs des Doms in seiner mustergültigen Handschrift mit der Niederschrift seiner «Autobiographie» begann, wusste er schon nicht mehr so ganz genau, ob, was er da niederschrieb, wenn es zum Beispiel um Abschiede ging und ums Sterben – Anfang 1858 starb seine Großmutter –, die Wiedergabe seiner eigenen Empfindungen war oder Spruchdichtung, Literatur, Bibel- und Predigttexte, die gewohnten großen Worte, die ihn von früh auf begleiteten. «Leben» wurde hier schon zur Literatur, und es musste aufgefüllt werden mit Pathos und Bildern, um einen Anspruch auf Wertigkeit und Bestand haben zu können, um dem Verfasser einen Zugang, so scheint es, zu sich selbst zu ermöglichen. Diese Aufmischungen wurden ein Lebensgesetz. Doch der Rausch, der dadurch entstand, endete immer in entsetzlichen Abstürzen, wenigstens im weiteren Lebensverlauf.
    Friedrich Nietzsche war vierzehn, als er in das berühmte Eliteinternat Schulpforta kam, eine ehemalige Zisterzienserabtei, nicht weit von Naumburg gelegen, aber eben doch fern von zu Hause, so dass er wie die meisten Internatskinder in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher