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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
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bereits verrentet. Wegen schwerer und nach wie vor rätselhafter Erkrankungen hat er vor zwei Jahren seine Basler Professur aufgeben müssen. Von furchtbaren Kopfschmerzattacken mit Übelkeit chronisch geplagt, hoffte er dann, ein Klima zu finden, das ihm Erleichterung bringe –und im Oberengadin, in Sils, diesem «lieblichsten Winkel der Erde» , schien er es endlich gefunden zu haben. Ein euphorisches Hochgefühl erfasste den Denker, als er im Juni 1879 zum ersten Mal hier war und nicht nur schmerzfreie Phasen verzeichnen konnte, sondern auch Schübe von Inspiration. «Mir ist, als wäre ich im Lande der Verheissung …» , schrieb er. «Zum ersten Male Gefühl der Erleichterung … Es tut gut. Hier will ich lange bleiben.» (24. Juli 1879 an seine Schwester). Und zwei Jahre später, nur wenige Wochen vor seinem «Zarathustra»-Erlebnis: «So still habe ich’s nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk.» (8. Juli 1881 an Peter Gast). Die Aufgabe der Basler Professur ist dem Denker, der nun ganz unbehelligt den letzten Fragen nachgehen kann, rückwirkend auch so etwas wie eine Befreiung – und wen hat nicht schon Krankheit in die Befreiung geführt?
    Er war ein Wunderkind, der kleine Nietzsche; ein glänzender Primus im berühmten Gymnasium Schulpforta bei Naumburg, herausragend in den alten Sprachen vor allem, die er von Kindheit an vornehmlich trieb. Von seinem Leipziger Universitätslehrer Ritschl glühend empfohlen, wurde er in Basel unter Umgehung diverser akademischer Zwischenschritte mit nur 24 Jahren Professor der Altphilologie. Leider machte er sich dann unbeliebt in der wissenschaftlichen Welt, wurde gar zum «enfant terrible», als er ein Bild vom Griechentum vorstellte, das das tradierte verletzte – erstes Anzeichen dafür, dass er zu markanteren, grenzsprengenderen Denkakten und -wegen bestimmt war als den limitierten der akademischen Institutionen. Niemals, stellte er noch während seiner Lehrtätigkeit fest, könne man im Rahmen der Institutionen so absolut denken, wie es erforderlich sei. «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik», 1872 erschienen, beschreibt die Heiterkeit und Diesseitsbetonung der älteren Griechen als «die aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüte der apollinischen Kultur, als […] Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt.»
    Weisheit des Leidens … Hier setzt alles an. Die Welt des «Willens», weiß der Schopenhauer-Adept, ist Leiden und Qual. Doch in unserem Wissen um die schreckliche Wahrheit des Lebens sind wir bedürftig nach dem «schönen Schein» – für Friedrich Nietzsche der Ursprung der Kunst. Gott Apollon, der Kunstschaffende, Maßhaltende, Harmonisierende, befriedet Dionysos, Gott des Rausches und der Ekstase, das wahrhaft Seiende und Ur-Eine, das ewig Leidende und Widerspruchsvolle. Zu seiner ständigen Erlösung braucht es den lustvollen Schein – «denn nur als ästhetisches Phänomen» , so Nietzsche in seinem Frühwerk, «ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.» Die älteren Griechen überwanden den Blick in den Abgrund durch die Anbetung des Scheins über den Blick in den Abgrund hinaus. «O diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!» Der Wille zum schönen Schein ist Apollons Reich, eine Mondsphäre, Halbdunkel, gleißendes Silberlicht – Nietzsche mit siebenundzwanzig. Doch Zarathustra, Nietzsches Schöpfung in seinem vierzigsten Jahr, will ja «des Mondes Liebschaft» , den schönen Schein mit seiner Pseudo-Entstofflichung und Transzendenz, «männlich» ersetzen durch «Sonnenliebe», «Unschuld» und «Schöpfer-Begier» . In Sils Maria, wo Zarathustra ihm erstmals erschien, propagiert Nietzsche den hellen Mittag in klarer Gebirgsluft und nicht das milchige, alles vernebelnde Mondlicht im Zeichen Apolls. Denn darum soll es am Ende gehen: um die Erde und nicht mehr ums Himmelreich, nicht mehr um «Schlaf und Behagen und mohnblumige Tugenden dazu». Zarathustra spricht: «Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand
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