Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedliche Zeiten - Erzählung

Friedliche Zeiten - Erzählung

Titel: Friedliche Zeiten - Erzählung
Autoren: Rotbuch-Verlag
Vom Netzwerk:
wirklich leidzutun, weil natürlich nicht jeder die Kleidergröße von unserem Vater haben konnte, darin waren sie durchaus verschieden, und oft wehrte er sich dann, als Vogelscheuche herumzulaufen, den einzigen Arm in einen zu kurzen Ärmel gesteckt, oder mit dem einzigen Bein über einen Hosenaufschlag zu stolpern und wie ein jämmerlicher einbeiniger Clown durch die Welt zu ziehen, er fragte dann doch lieber noch einmal nach Geld, aber die Mutter rettete sie alle vor dem Schnaps am Kiosk, den Hartnäckigen sagte sie einfach, sie hätte kein Geld im Haus, obwohl das nicht stimmte, weil die Mutter immer sogar mehrere Sorten Geld im Haus hatte, das laufende Haushaltsgeld, das Geld für die Reinemachfrau donnerstags und das Eiserne-Reserve-Geld für irgendwelche Notfälle. Außer den Karosseriearbeiten gab es eigentlich zwar nie Notfälle, aber es hätten jederzeit welche eintreten können, wenn wir etwa mit unserer Blutarmut Kreislaufstörungen bekämen, in Ohnmacht fielen und plötzlich zum Arzt müßten oder gleich ins Krankenhaus eingewiesen würden. Ein Notfall ist etwas, was man nie wissen kann, aber wegen der Notfälle hat man besser eine eiserne Reserve, sagte die Mutter, und wegen der Notfälle sollten wir immer auf saubere Unterwäsche achten, damit die Mutter bei einem plötzlichen Arztbesuch sich nicht für den Zustand der Unterwäsche ihrer Kinder schämen und bei Arzt und Krankenschwestern entschuldigen müßte. Es war also immer Geld im Haus, und Wasa rempelte mir den Ellenbogen in die Rippen, damit ich auch merkte, die Mutter log, und wenn der Kriegsverzehrte dann abgezogen und die Sicherheitskette wieder vorgelegt war, sagte Wasa, soso, Mama, den hast du wohl eben schön angelogen, was, und die Mutter wurde ein bißchen verlegen, nicht wegen der Lüge selbst, sondern weil wir gehört hatten, wie sie gelogen hatte, und dann sagte sie einen unserer Lieblingssätze: Das war doch keine richtige Lüge, das war doch bloß eine Notlüge, denn so wie es mehrere Sorten Geld im Haus gab, gab es auch mehrere Sorten Lügen. Es gab die richtigen, wirklich schlimmen Lügen, für die Wasa und ich zuständig waren, die kleineren Kinderschwindeleien, das waren Floris Angelegenheiten, und schließlich gab es die Notlügen der Mutter. Notlügen sind edle Lügen für einen guten Zweck, sagte die Mutter, und für einen doppelten guten Zweck war diese Notlüge eben gewesen, denn wegen der Notlüge hatte der Mann eben gar nicht gemerkt, wie er vor Bier und Schnaps und Kiosk gerettet worden war, und das hätte er natürlich gemerkt, wenn die Mutter gesagt hätte, guter Mann, zwar habe ich jede Menge Geld im Haus, mehrere Sorten Geld sogar, wenn Sie’s genau wissen wollen, aber das gebe ich Ihnen nicht in die Hand, weil Sie es dann nicht verzehren, sondern doch bloß gleich wieder versaufen, selbst wenn Sie einige Ihrer Arme und Beine im Krieg gelassen haben. Das hätte ihn verstimmt, und vielleicht hätte er es sich dann doch noch einmal anders überlegt mit seiner Ungefährlichkeit und Harmlosigkeit, es wäre ihm wahrscheinlich ganz plötzlich sein Soldatenhandwerk wieder eingefallen und was er im Krieg gelernt und gemacht hatte, und dann hätte er uns natürlich doch alle rasch noch zum Schluß vergewaltigt und anschließend um- und auseinandergelegt, bis auf Flori, der für diesen Notfall ein für allemal die Anweisung hatte, sich im Kleiderschrank zu verstecken. Also war es nicht nur eine Notlüge aus Höflichkeit, weil die Mutter dem Kriegsverzehrten sein Schnapssaufen am Kiosk nicht ins Gesicht sagen und ins Bewußtsein bringen mochte, sondern es war sogar eine kluge Notwehrlüge, die uns alle davor schützen sollte, daß wir umgebracht wurden, und also hatte sie sowieso einen doppelten guten Zweck, und zuletzt sagte die Mutter dann jedesmal, und wenn ich nicht da bin, macht ihr überhaupt nie und niemand die Tür auf, hört ihr, du auch nicht, Flori, hast du gehört. Und wir versprachen es.
    Während des Waffenstillstands gingen unsere Eltern abends manchmal zusammen weg, vielleicht weil der Vater immer noch leise hoffte, irgendwo jemand zu treffen, mit dem er etwas unternehmen könnte wie früher mit seinen Ostleuten, Witze erzählen oder so etwas, ohne Frauen. Wenn sie losgingen, standen wir am Fenster und winkten, und bevor sie ins Auto stiegen, machte die Mutter noch mal die waagerechte Sicherheitsketten-Bewegung mit beiden Händen, und wir nickten. Trotzdem hatte sie den ganzen Abend über kein gutes Gefühl,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher