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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn
Autoren: Unbekannter Autor
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»Ma? Ich brauche die Schüssel.«
    »Hettie«, sagte die Frau erklärend. »Gebrochener Knöchel. Das Werkzeug ist im Schuppen.«
    »Ja, Ma’am. Ich mache mich gleich an die Arbeit, solang ’s noch hell ist.« Carl bedachte sie mit dem warmen Lächeln, das ihm angeboren war. Er sah auf eine unaufdringliche Art gut aus. Er hatte die kurzen Beine seines Vaters und den langen Oberkörper seiner Mutter, aber insgesamt ähnelte er mehr Ilsa als dem General. Er hatte auch das gleiche dichte Haar, wie sie es gehabt hatte, bevor es ergraut war. Seine braunen Augen leuchteten hell wie die seiner Schwester.
    Die Frau mit dem faltigen Gesicht lächelte zurück, ihr Mißtrauen schien verschwunden. »Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind.« Sie schloß die Tür, als ihre Tochter erneut nach ihr rief.
    Carl überquerte den Hof. Das Häuschen stand auf einer kleinen Anhöhe, der Blick über das dunkelnde Tal mit den versprengten Hausdächern war fast atemberaubend. Der klare Himmel bot ein herrliches Farbenspiel, dunkelblau bis lavendelfarben, dann leuchtend rot entlang den Palisaden. Die Luft war so kalt, daß das Atmen schmerzte.
    Er fand das kaputte Rad im Schuppen. Es war ein schwarzes Sicherheitsfahrrad, hergestellt in Dayton von den Brüdern Wright, die diese Fabrikation vor ihren aeronautischen Entwicklungen betrieben hatten. Inzwischen waren die Brüder Wright durch ihre Flüge in Kitty Hawk und anderswo weltberühmt und steinreich; sie hatten es längst nicht mehr nötig, Fahrräder herzustellen oder zu reparieren.
    Carl fand Flugzeuge und andere mechanische Wunderwerke der Technik einfach faszinierend. Es fehlten ihm lediglich die Gelegenheit und die notwendigen Mittel, sich intensiver damit zu beschäftigen.
    Mit einer Hand auf dem dreieckigen Rahmen hockte er vor dem Fahrrad. Nachdem er sich den Schaden angesehen hatte, kramte er herum und fand auf einem Regal ein paar alte Werkzeuge. Er schob Sägeblätter und Feilen zur Seite und griff nach Schraubenschlüssel und Zange, die mit einer dicken, braunen Staubschicht bedeckt waren. Die Zange fiel ihm aus der Hand, er machte einen Schritt zur Seite, um sie aufzufangen, und stieß dabei mit der Schulter gegen ein anderes Regal, das furchtbar wackelte, so daß ganze sechs leere Einmachgläser zu Boden fielen. Zwei davon zerbrachen in tausend Stücke.
    Er sah sich nach einem Besen um, fand jedoch keinen, woraufhin er die größten Glasscherben vom Boden auflas und sie nach kurzer Überlegung in ein leeres Nagelfäßchen warf. Er ärgerte sich, weil es ihm bis heute nicht gelungen war, diese Tolpatschigkeit loszuwerden, die aus seiner Körperkraft resultierte und aus dem Wunsch, alles schnell zu erledigen. In seiner Kindheit und Jugend hatte seine Mutter immer um ihre kostbaren Möbel und ihr teures Porzellan gebangt. Nicht, daß er etwas mit Absicht kaputtgemacht hätte, nein, es passierte ihm einfach. Nicht selten wußte er sich, wenn der Schaden erst einmal entstanden war, nicht zu helfen. Diesmal war es nicht so schwer; es dauerte kaum eine Minute, die restlichen großen Glasscherben in das Nagelfäßchen zu werfen und die kleineren mit dem Absatz seines Stiefels zu Staub zu zermalmen.
    In der Ferne bellte ein Hund. Jemand spielte auf einem Harmonium My Gal Sal. Einen Augenblick lang fühlte er sich einsam und verloren, ein Mensch, der ohne Plan, ohne Ziel und meistens ohne einen Pfennig Geld in der Tasche durch das Leben stolperte. Er versuchte diese Gedanken zu verscheuchen, als er sich an die Arbeit machte.
    Er schraubte das Vorderrad ab und flickte den Schlauch, der den Sturz nicht heil überstanden hatte. Das verbogene Lenkrad bog er mit bloßen Händen gerade. Nach zwanzig Minuten war er fertig. Weil er der Witwe nicht sagen mochte, wie einfach die Reparatur gewesen war, rieb er sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab und trat an den Lattenzaun. Im Westen erstreckte sich ein scheinbar endloser Himmel, dessen Anblick ihm die unseligen Jahre an der Universität in New Jersey ins Gedächtnis rief.
    Der Tag, an dem alles zu Ende gegangen war, stand ihm noch lebhaft in Erinnerung. An einem Freitag im Mai des Jahres 1904 war sein Vater, der einen Brief vom Dekan der Universität erhalten hatte, in Princeton eingetroffen. Um zwei Uhr nachts entstieg der General schmutzig, müde und ungehalten dem Personenzug von New York. »Ich schätze es gar nicht, wenn ich wegen deiner schlechten akademischen Leistungen mein Geschäft im Stich lassen muß«, erklärte er, als Carl
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