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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn
Autoren: Unbekannter Autor
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Gebrüll eines Marktschreiers zu unterscheiden wußte - nach alldem hatte Fritzi das Gefühl, alles gelernt zu haben, was es bei Mortmain zu lernen gab.
    Nach Meinung seiner Frau und seines Arztes verließ der General das Krankenlager viel zu früh. Wieder fuhr er jeden Morgen um sechs Uhr eigenhändig in die Brauerei, wo er für gewöhnlich zehn bis zwölf Stunden zubrachte. Eigentlich hatte Fritzi nur kurz bleiben wollen, und ihr Vater verwies auch niemals auf seine Krankheit, um sie zum Bleiben zu bewegen. Warum sie letztendlich blieb, wußte sie selbst nicht.
    Damit ihr die Zeit nicht lang wurde, ging sie allen möglichen Beschäftigungen nach. Sie trieb regelmäßig Sport - angefangen von morgendlicher Gymnastik in ihrem Zimmer bis hin zu Tennis, Radfahren und Schwimmen -, so lange das Wetter mitspielte. Sie schloß sich einer Amateurtruppe an und spielte dort alles, von der Heldin in einem Melodram von Clyde Finch bis zu Mrs. Alving in einer privaten Vorstellung der Gespenster - privat deshalb, weil Ibsens Drama zu gewagt war, um es öffentlich aufzuführen.
    Wenn sie nicht probte, malte sie Bühnenbilder, nähte Kostüme und verteilte Handzettel, um für die Vorstellungen zu werben. Sie erkannte rasch, daß sie weitaus ehrgeiziger war als ihre Mitspieler, die sich mit einem Lob, verdient oder nicht, von Tante Bea oder Vetter Elwood zufriedengaben. Einige waren verheiratet und suchten flüchtige Abenteuer. Einen dieser Schürzenjäger verscheuchte Fritzi mit ihrer bewährten Haarnadel.
    Der Wind blies ihr ins Gesicht und summte in ihren Ohren, als sie sich der Innenstadt näherte, wo sich schläfrige Einwohner zur Arbeit schleppten und selbst die Karrengäule sich mit frühmorgendlicher Langsamkeit zu bewegen schienen. Das Singen des Windes konnte die zarte innere Stimme jedoch nicht übertönen.
    Mach dich auf, mein Kind!
    Die Stimme gehörte jener unsichtbaren Gefährtin, die Fritzi seit Jahren begleitete. Es war die herrliche, göttliche Ellen Terry, Königin internationaler Bühnen. Fritzi hatte Miss Terry in der Rolle der Ophelia neben Henry Irving als Hamlet gesehen auf der Tournee, die die beiden in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch ganz Amerika gemacht hatten. Eine kolorierte Lithographie der großen Dame hing an der Wand über Fritzis Bett. Es war eine Reproduktion von John Singer Sargents berühmtem Portrait von Terry als Lady Macbeth. Fritzi hatte stundenlang vor dem Bild gestanden, das 1892 auf der Weltausstellung in Kolumbien gezeigt worden war. Aber nicht Ellen Terry hatte den Anstoß gegeben für ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, sondern eine zauberhafte Aufführung vom Sommernachtstraum, die sie als Siebenjährige mit Mama und Papa besucht hatte. Als Fritzi aus der Matineevorstellung ins helle Tageslicht hinaustrat, war ihr Weg vorgezeichnet. Später erst wurde Miss Terry ihre Lieblingsschauspielerin und ihr großes Vorbild.
    Daß sie stumme Dialoge mit einer imaginären Person führte, schien ihr selbst nicht weiter verwunderlich, obwohl sie keiner Menschenseele davon erzählte. Für sie waren diese Unterhaltungen tägliche Phantasieübungen, und ihre Phantasie war besonders lebhaft. Bezeichnenderweise wiesen Ellen Terrys Kommentare auf Fritzis Mängel hin, ihre Stimme war eine Art personifiziertes Gewissen.
    Denk daran, wie alt du nächsten Monat wirst!
    Sie war ärgerlich; sie brauchte niemanden, der sie daran erinnerte, daß sie im kommenden Januar wieder einen großen Schritt auf die Dreißig zu tun würde und somit auf dem besten Wege war, eine »alte Jungfer« zu werden, ein Zustand, den man als normale junge Frau inbrünstig zu vermeiden suchte.
    Natürlich setzten sich normale junge Frauen auch nicht vor Tagesanbruch aufs Fahrrad, um am See den Sonnenaufgang zu betrachten. Fritzi hatte schon vor langem erkannt, daß es ihr nicht gegeben war, normal zu sein, weder äußerlich noch innerlich. So war ihr Fleetwing immer ihr Rad, niemals ihr Fahrrad oder, Gott bewahre, ihr Veloziped. Auch wenn sie sich noch so sehr gewünscht hätte, normal zu sein (was ihr ohnehin nicht gelang), und obwohl ihr Vater und ihre Mutter es sich wünschten, konnte sie nur etwas ganz anderes sein: sie selbst.
    Aber wer und was war sie? Im Augenblick fiel ihr nur eine einzige zutreffende Antwort ein: Schauspielerin.
    Kaltes, gelbes Morgenlicht fiel auf das geschäftige Treiben im Stadtzentrum, als sie auf dem Michigan Boulevard nach Süden radelte. Es fiel auf Telephon- und
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