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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman
Autoren: Steffi von Wolff
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den Tiefen des Sicherungskastens. Der Lehrling, er heißt Gunnar, fragt uns unterdessen aus. Welche Promis so kommen und Techno wär geil und überhaupt, wie das so wär beim Radio. Jede Antwort von uns kommentiert er mit »voll extrem« oder »kultig«. Wenn er jetzt gleich noch »geilcool« oder »äääächt« sagt, werde ich ihm eigenhändig die Stimmbänder entfernen.
    Wulf stößt unterdessen auf.
    Jo ruft zum hundertsten Mal an und fragt, ob und wie es denn voranginge, in der Redaktion herrsche angespannte Stimmung, was ja Caros Schuld sei und so weiter.
    Henning kann ihn einigermaßen beruhigen.
    Eine Viertelstunde später steht fest, dass Herr Schneider die Kuh nicht vom Eis holen kann. Irgendetwas ist irreparabel, hat etwas mit dem Ohm’schen Gesetz zu tun, jedenfalls sind irgendwelche Kabel kaputt und nicht zu ersetzen, die Strom erzeugen. Aber der Zug könne trotzdem fahren, meint der Herr Schneider, dann eben ohne Musik. Was bei einem Partyzug, in dem vierzehn Stunden lang acht DJs Musik machen sollen, ja auch unheimlich sinnvoll ist.
    In dem Moment ruft einer der gebuchten DJs auf meinem Handy an und meint, er stünde gerade vor seinem Kleiderschrank und wüsste nicht, ob er seine alten oder seine neuen goldenen Sneakers anziehen soll. Ich sinke auf einer Bank auf Gleis 12 zusammen und weine still vor mich hin. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Nervenzusammenbrüche immer lautstark abgehen. Man kann auch leise verrückt werden. Meine Kontaktlinse (rechts) wird aus dem Auge geschwemmt und fällt auf die Banklehne. Mitten in ein reingeschnitztes Herz. In dem Herz steht: »Marius und Carolin forever.«
    Und dann fange ich ganz laut an zu heulen. Lauter als Wulf jemals rülpsen kann.
    Henning, überfordert mit der Situation, will mich trösten, aber mich kann niemand mehr trösten.
    Der Zug, der Zug. Meine Idee, mein Baby. Und auf jedem Bahnsteig zwischen Marburg und Darmstadt, stehen unsere Hörer und freuen sich darauf, gleich vierzehn Stunden zu tanzen. Und die DJs, die wir trotzdem bezahlen müssen. Und Wulf, der mir hilflos über den Arm streichelt, und das Walkie-Talkie und überhaupt.
    Henning telefoniert mit Jo. Jo kann es nicht fassen und meint, das würde morgen in allen Zeitungen stehen, dass wir zu doof seien, einen Zug zum Laufen zu bringen, das gebe ein Nachspiel bei der Bahn, die Verantwortlichen müssten sich stellen. Leider hat er aber nirgendwo irgendjemanden erreicht. Weil ja schon Wochenende ist. Aber der Zug dürfe auf gar keinen Fall ohne Musik und ohne Stromversorgung fahren, da würden wir uns ja lächerlich machen. Gott sei Dank ist er wenigstens hier einer Meinung mit uns.
     
    Wir werden dann in dem Zug von einem Abstellgleis auf ein Wartungsgleis gezogen und sind ununterbrochen am Telefonieren. Auf den Bahnhöfen müssen ja Durchsagen gemacht werden, und im Sender muss eine Hotline eingerichtet werden für böse Hörer, die fragen wollen, was Sache ist. Es ist entsetzlich. Irgendwann sind wir wieder bei unserem Dienstwagen und Henning hat die geniale Idee, noch mal zum beladenen Zug zurückzufahren und das Auto mit Getränken und Essen voll zu laden, um dann damit in den Sender zu fahren, wo laut Jo eine Trauerfeier für den ausgefallenen Zug stattfinden soll.
    Ich bin leicht angeschickert und fahre zu schnell rückwärts an einen Abteilwagen heran, was zur Folge hat, dass eine ziemliche Beule im Dienstwagen ist. Zum Glück gibt es Versicherungen.
    Die anderen empfangen uns im Sender, als seien wir ein Ehepaar, das gerade erfahren hat, dass es nur noch zwei Stunden zu leben hat, alle fassen uns mit Samthandschuhen an.
    Dann rennen wir alle gemeinsam runter und laden das Auto aus. Die gebuchten DJs meinen, das wäre doch alles total lustig und sie würden jetzt hier auflegen, bei uns im Foyer. Und das tun sie dann auch.
    Wir feiern bis morgens um 6 Uhr. Ich schlafe irgendwann auf einem verstellbaren Gesundheitssessel aus braunem Cord ein, den Ina von ihrer Oma geerbt und in die Musikredaktion gestellt hat. Alle schlafen im Sender, verteilt auf Tischen, unserem großen roten Sofa und zwei Klappbetten, die ich mal organisiert habe, falls jemand wegen Schneesturm abends nach seiner Sendung nicht mehr nach Hause fahren kann.

28

    Der Frühmoderator ist natürlich todmüde, es gibt wohl nichts Schlimmeres, als aufzustehen, in diesem Falle vom Boden, und senden zu müssen, während alle anderen weiterpennen. Lediglich Zladko ist wach und macht Redaktion, schläft aber kurze Zeit
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