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Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom

Titel: Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Autoren: Ayse Auth
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so bekannt wie in Deutschland der sprichwörtliche bunte Hund. Nein - das stimmt so nicht ganz: Sie war eine graue Eminenz.
    Tatsächlich, unsere Babanne war in dieser Lebenswelt eine absolute Respektsperson. Nicht nur, dass sie unangefochten unsere weit über hundert Köpfe zählende, weitverzweigte Sippe regierte. Nein, ihr lag die ganze Umgebung zu Füßen! Zweifellos hätte Arife das Zeug zur Bürgermeisterin oder zur erfolgreichen Unternehmerin gehabt, wenn, ja wenn eine solche Karriere für eine Frau nur denkbar gewesen wäre. So aber musste sie sich mit der Rolle der heimlichen Herrscherin begnügen. Sie war die Ahretanne , die weise Frau, von Susurluk.
    Und damit hatte sie eine Menge zu tun, sei es im medizinischen, im juristischen oder im religiösen Bereich. Sie war eine echte Allrounderin, wenn auch eine sehr ungewöhnliche.
Die Wurzel all ihrer Funktionen in der Gemeinschaft, sozusagen ihre Kernkompetenz, bildete etwas wahrlich Ehrfurcht Gebietendes: Großmutter vermochte sich in die Welt des Jenseits zu begeben. Und dies ebenso selbstverständlich, wie andere Menschen von zu Hause zur Arbeit gehen. In gewisser Weise war dies tatsächlich ihr eigentlicher Arbeitsplatz: das Jenseits. Davon waren alle in Susurluk felsenfest überzeugt. Eine Ahretanne steht mit dem einen Fuß in der Welt der Menschen, mit dem anderen in der Welt der Geister. In dörflichen Gemeinschaften meines Heimatlandes übernehmen diese Frauen auch heute noch wichtige Aufgaben: als Vorbeterinnen und Heilerinnen, als Lebensberaterinnen und Schlichterinnen.
    So war es auch bei Arife. Ihre bunt gemischten Aufgaben erfüllte sie mit unerschütterlicher Souveränität und konzentrierter Aufmerksamkeit, worum es sich auch gerade handeln mochte. Hatte sie eben noch für eine Klientin Kontakt mit der Seele eines verstorbenen Verwandten, Ehepartners oder Liebhabers aufgenommen, um eine Botschaft aus dem Jenseits ins Diesseits zu befördern (oder umgekehrt), so erteilte sie in der nächsten Stunde einem jungen Brautpaar den Segen (oder auch einem Bauvorhaben), oder sie betete für einen Bauern um eine gute Ernte.
    Oma vermittelte zwischen streitenden Nachbarn und Erben. Sie segnete das Wasser aus neu gegrabenen Brunnen und besprach welches, das man dann kranken Tieren zu trinken gab. Wurde ein junger Soldat in die Unruhegebiete Kurdistans versetzt, kam er zu ihr, und sie rief für ihn die Schutzengel herbei. Wünschte sich eine bislang unfruchtbare
Frau sehnlichst ein Kind, ging sie zur Ahretanne , damit diese ihr die Hände auf den Bauch legte und gewisse Fruchtbarkeitsriten vollführte. War jemand so krank, dass er nicht selbst zu ihr kommen konnte, schickte er stellvertretend einen Verwandten oder Freund. Diesem gab Oma zum Trinken für den Patienten ein Glas Wasser mit, das sie vorher »bebetet« hatte.
    Nie wurde eine Bitte abgeschlagen, wenn es darum ging, Leiden zu lindern oder das Glück und den Segen Allahs herbeizuführen. Ob als Mediatorin oder Geistheilerin, ob als Vorbeterin oder Beschwörerin, unsere Babanne galt als äußerst kompetent und zuverlässig. Es gibt noch heute Menschen in Susurluk, die steif und fest behaupten, sie habe ihnen das Leben gerettet. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, manch einer hielt meine Großmutter für eine Heilige.
    Oma begleitete ihre Aktivitäten regelmäßig mit einem halblauten Singsang, den niemand zu verstehen schien. Wir Kinder am allerwenigsten. Offiziell galt das als »Gebet«. Allerdings hatte es so gut wie keine Ähnlichkeit mit der Art, wie ein gläubiger Muslim oder gar der Hotscha , der Geistliche in der Moschee, betet. Dabei war Oma ganz bestimmt eine gläubige Muslima . Sie achtete streng auf die Einhaltung der religiösen Regeln des Islam, bei sich selbst, aber auch bei uns. Doch je älter ich wurde und je mehr ich über die islamische Religion lernte, umso deutlicher bekam ich das Gefühl, dass es mit Großmutters Gebaren noch eine ganz andere Bewandtnis hatte. Ich vermute, ihre Praktiken wurzelten in einer sehr, sehr fernen Vergangenheit. Ich bin aber nie ganz dahintergekommen. Ihre Geheimnisse ruhen
mit ihr im Grab. Aber ihr Charisma, das besondere Fluidum, welches sie umgab, das spüre ich noch immer.
    Für uns Kinder war das rege Treiben im Hause einer Ahretanne eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits litt ich darunter, dass ich tagsüber meine Schlafliege, praktisch die einzige Rückzugsmöglichkeit für mich im ganzen Haus, an Omas Klienten abtreten musste, denn
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