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Freakshow

Freakshow

Titel: Freakshow
Autoren: Jörg Juretzka
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Wohnzimmerwand mit gerahmten Fotos und Gemälden, davor ein Sofa, daneben die gekachelte Ecke eines Badezimmers. Kulissen, ging mir auf. Requisiten. Für Filme. Mein Blick fiel wieder auf die Webcam. Irgendwo in der Nähe musste ein Empfänger sein. Ich löste den kleinen Scheinwerfer, leuchtete herum, stieg aus der Kühltruhe, über die Haufen von Autoreifen, umrundete die Kulissen, entdeckte ein blaues Lämpchen. Es gehörte zu einem Laptop, der auffallend abgenutzt und mit Zetteln beklebt war. Er lag auf einem Schreibtisch zwischen Stapeln von DVDs, Akkupacks und anderem Zubehör. Ich klappte ihn auf. Das rechteckige Geviert in der Mitte des Monitors zeigte Schwarz mit ein paar Schattierungen von Grau. Ich hob den Scheinwerfer, leuchtete hoch zur Dachkonstruktion der Scheune, und am oberen Rand des Bildausschnitts erschien ein Silberstreif. Und unter dem Silberstreif eine unruhige, auf- und abblendende, senkrechte weiße Linie. Licht. Licht, das durch einen Spalt fiel. Von draußen nach drinnen. Licht, das sich näherte. Begleitet vom plärrenden Motorgeräusch eines Scooters.
    Der erste Impuls war flüchten, doch mein Selbstwertgefühl wollte lieber kämpfen. Ich klappte den Laptop zu, klemmte ihn mir unter den Arm und sah mich hektisch nach irgendetwas zum Zuschlagen, Zustechen, nach etwas zum Schneiden um, nach etwas zum Werfen, Schleudern, dann hörte ich das manische Kratzen von Hundepfoten am Scheunentor, und ein Fluchtimpuls riss mich ohne weitere Diskussion mit sich mit in die direkt entgegengesetzte Richtung. Draußen erstarb das Motorgeräusch, und in der nächtlichen Stille rief Priscilla den Hund zur Ordnung. Dann hörte ich Schlüssel klimpern.
    Die Hintertür war mit einem rostigen Riegel versperrt. Ich zerrte ihn auf und entkam in demselben Augenblick nach draußen, in dem das Scheunentor in seinen Angeln quietschte. Die Leiter lag noch da, wo sie der Hund früher am Abend umgerissen hatte. Ich lehnte sie gegen den Zaun, kletterte die Sprossen hoch und wollte mich oben bäuchlings über den Stacheldraht wälzen, als mir plötzlich und mit absoluter Verblüffung auffiel, dass ich keinen Fetzen am Leib trug.
    Dann flog die Hintertür der Scheune auf, und ich hechtete auf die andere Seite, in der einen Hand nach wie vor den Laptop, zerrte mit der anderen sogar noch die Leiter hinter mir her und taumelte ein paar Schritte rückwärts, als Priscilla aus vollem Lauf ihren Degen bis zum Heft durch den Maschendraht stieß. Die rasiermesserscharfen zehn Zentimeter am oberen Ende der Klinge blitzten im Mondlicht, keine Handbreit vor meinem nackten Balg.
    Wortlos zog Priscilla den Stahl zurück, verstaute ihn hinter ihrem Rücken. Einen kurzen Moment lang sahen wir einander an. Ich erwartete, irgendeine Form von Erregung, von Blutdurst in ihrer Miene zu finden, doch sie war noch nicht mal außer Atem und blickte bestenfalls trotzig drein.
    Der Hund warf sich wieder und wieder gegen den Zaun, bis Priscilla zu einer Entscheidung kam, einen schrillen Pfiff ausstieß und losrannte. Um die Scheune herum, zurück zu ihrem Roller.
    Das löste auch mich aus meiner Erstarrung. Nackt, mit dem Laptop unterm Arm und der Leiter auf der Schulter hastete ich zwischen den Kisten und Containern hindurch zum Tor des Firmengeländes, barfuß über Schotter und Disteln. Nebenbei versuchte ich auszurechnen, wie viel Zeit mir blieb, bis Priscilla den Weg über die Siedlung, die Allee, die B8 und die das Village umfahrende Zufahrtsstraße zur Schwerlastverladung hinter sich gebracht hatte. Drei, vielleicht vier Minuten, falls sie keine Abkürzung kannte.
    Draußen vor dem Werkstor standen Menschen. Fast wäre ich in Jubel ausgebrochen. Da sah ich ihre Overalls, ihre im Mondlicht farblich nicht zu bestimmenden, aber gleichförmig dunklen Overalls. Und den Trecker. Dessen Scheinwerfer suchend aufgeblendet wurden, weil jemand schrie und mit ausgestrecktem Arm auf mich zeigte. Alle Köpfe fuhren zu mir herum, der Trecker ruckte an, es schepperte, und das Werkstor geriet ins Wanken.
    Die Zeugen hatten mir den Fluchtweg abgeschnitten. Und jetzt würden sie mich hetzen. Ich warf die Leiter von mir, ebenso den Laptop, und scheiß auf mögliche Beweise, rannte blindlings davon, in die Distanz, ins Dunkel, nur weg, weg, weg und dann weitersehen. Doch da war nichts mit Weitersehen. Hinter mir heulte schon wieder der getunte Motorroller auf, sein Scheinwerferlicht warf meine strampelnde Silhouette als erst ellenlangen, dann rasch kürzer
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