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Frauenversteher

Frauenversteher

Titel: Frauenversteher
Autoren: Carsten Hoefer
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Möglichkeiten damals noch nicht so weit fortgeschritten wie heutzutage. Die Aussicht, mittels Ultraschall Bilder vom Fetus zu bekommen, war nicht wesentlich weiter entwickelt als Kaffeesatzlesen.
Natürlich tat der Frauenarzt meiner Mutter ganz arzttypisch wichtig (so wie es Ärzte aller Fachrichtungen auch heute noch gerne tun, wenn sie keine Ahnung haben) und verkündete mit breiter Schulter und großem Stolz ob seines ach so modernen Gerätes: »Sehen Sie, hier haben wir die echogene, zentrale Gebärmutterhöhle. Die anteriore Uteruswand weist den üblichen Abstand zum fetalen Körper auf, da haben wir kein Oligohydramnion zu befürchten. Das Fruchtwasser ist anechogen. Aha, schauen Sie hier, das ist ungewöhnlich: Die Nabelschnur weist eine marginale Insertion auf, was nur bei etwa fünf Prozent aller Schwangerschaften auftritt, aber keine klinische Relevanz hat. Ich denke, wir werden auch keine vorzeitige Dilatation des Zervikalkanals bekommen.« 2 Meine Mutter staunte nicht schlecht, betrachtete den kleinen Schwarz-Weiß-Bildschirm mit der unterirdischen Auflösung und meinte nur: »Also für mich sieht das aus, als würde da ein Tiefdruckgebiet von Südosten aufziehen. Wahrscheinlich regnet es morgen in meiner Gebärmutter.« Geschlechtsspezifische Merkmale waren damals vor der Entbindung nicht zu erkennen. So konnte ich wenigstens bis zum Zeitpunkt meiner Geburt verheimlichen, dass ich ein Junge war.

Alle Menschen kommen als Mädchen auf die Welt
    Unmittelbar nach meiner Geburt veranlasste ich umgehend, dass ich in warme Decken eingewickelt wurde, um meine Scham zu bedecken. Meine Schwester war bei ihrem ersten Besuch auf der Neugeborenenstation zunächst absolut begeistert von mir. »Toll, so ein süßes Schwesterchen!« Allerdings hat meine Mutter dann doch die Bombe platzen lassen: »Es ist ein kleiner Junge, weißt du? Hier schau …« Und dann präsentierte
sie meiner Schwester in aller Peinlichkeit meine fleischgewordene Adamspracht.
    Ein schrecklicher Moment der Offenbarung war das. Mir war, als hörte ich die Posaunen von Jericho. Es gab in diesem Moment nichts, was ich hätte tun können. Ich konnte ja nicht einmal sprechen. Ich wusste nicht mal, wie das überhaupt geht. Aber was hätte ich auch schon sagen sollen? »Es ist nicht das, wonach es aussieht«? Dieser Satz wurde von einer Frau noch zu keinem Zeitpunkt aus dem Munde einer »Nichtfrau« geglaubt. Ich konnte dem Blick meiner Schwester nicht standhalten. Ich dachte: »Na toll, das war’s dann wohl. Jetzt wird sie ganz fürchterlich enttäuscht sein. Meine eigene Schwester wird sich kommentarlos abwenden. Von dieser Schwester werde ich nie brüderlich geherzt werden. Gerade frisch geboren und schon zum Aussätzigen gestempelt.«
    Zu meiner allergrößten Überraschung allerdings ignorierte meine Schwester in ihrer kindlichen Weltanschauung meine kleine, rosafarbene, phallische Erhebung auf ihre ganz eigene Weise: »Nicht schlimm, dass sie diese kleine Missbildung hat. Ich mag sie so, wie sie ist.« Auch nachdem meine Eltern mehrwöchig versucht hatten, ihr klarzumachen, dass ich Carsten, ihr kleiner Bruder sei, fabulierte sie sich trotzig weiter in die Ansicht hinein, ich sei ihre kleine Schwester Christina. Nach einigen Wochen haben meine Eltern es dann aufgegeben und meine Schwester in ihrem Glauben belassen. Irgendwann würde sich die Sache schon von allein aufklären. Wie sich zeigen sollte, hat sich nichts von allein aufgeklärt. Es war ein ganzes Stück Arbeit, in das ich zwölf Jahre meines Lebens investiert habe.
    Meine Schwester kümmerte sich anfangs wirklich rührend um »ihre kleine Schwester«. In den ersten ein, zwei Jahren wurde ich von ihr gebadet, gewickelt, getröstet und gefüttert. Da kann ich mich wirklich nicht beschweren. Diese Zeit konnte ich fast vorbehaltlos genießen, auch wenn ich immer mit der großen Angst lebte, dass meine Schwester eines Tages beim Wickeln einen spitzen Schrei ausstoßen und mich
mit der Erkenntnis »Ih, das ist ja doch ein Junge!« angewidert vom Wickeltisch stoßen würde. Aber dieser Tag kam nicht. Im Gegenteil. Ich wurde so sehr von meiner Schwester »verweiblicht«, dass ich beizeiten erste Selbstzweifel hegte, wie es um meine Männlichkeit denn nun tatsächlich bestellt sei. Interessanterweise umgab uns meine Schwester zu jener Zeit ausschließlich mit weiblichen Kindern. All ihre Bekanntschaften, all ihre Freundschaften und Verabredungen waren weiblich. Eigentlich war das nicht
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