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Frauenversteher

Frauenversteher

Titel: Frauenversteher
Autoren: Carsten Hoefer
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schlecht. Ich lernte zu spielen wie die Mädchen, ich lernte zu diskutieren wie die Mädchen, und ich lernte zu quengeln wie die Mädchen. Wie ich erst sehr viel später herausfinden sollte, hatte diese zufällig erscheinende Tatsache aber System.
    Eines Tages, als ich mich auf meinem Lebensweg vom Baby zum Kind erstmalig in einer frühen Entwicklungsstufe der artikulierenden Selbstreflexion befand, badete ich (zum letzten Mal) gemeinsam mit meiner Schwester in der Badewanne. Nach erneutem Sichtungsvergleich meines Körpers mit dem meiner Schwester stellte ich klar und deutlich fest: »Ich das da, du nich …!« Sozusagen mein erster frühkindlicher »Efrauzipierungsversuch«. Gleichzeitig sieht man schon hier, dass auch bei mir der anscheinend angeborene Drang der Männer, die eigene Geschlechterrolle durch ein »Mehr« zu definieren, vorhanden war, obwohl im Laufe der Pubertät eigentlich alle Frauen zwei unleugbare Gegenargumente für weibliches »Mehr« entwickeln. Da meine Schwester aber bereits sechs Jahre mehr Lebenserfahrung, Wissensvorsprung und weibliche Argumentationslehre vorzuweisen hatte, musste mein Versuch ohnehin schon an dieser Stelle scheitern. Leise, aber doch deutlich gab mir meine Schwester Folgendes zu verstehen: »Nun ja, auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Allerdings sollst du wissen, dass alle Menschen immer erst mal als Mädchen auf die Welt kommen. Einige schon relativ richtig, so wie ich. Ein paar andere noch nicht ganz richtig, mit so einem Gebimsel, wie bei dir. Aber mach dir keine Sorgen, das fällt irgendwann dann schon ab, und alles wird gut. Später,
wenn du groß bist, so wie Mama und Papa, kannst du dich dann selbst entscheiden, was du werden willst, Mädchen oder Junge. Jetzt bist du aber erst mal ein Mädchen, so wie alle anderen Kinder auch!«
    Da musste ich drüber nachdenken. Konnte das wirklich so sein? Tatsache war ja, dass es quasi keine männlichen Kinder in meiner Umgebung gab (dafür hatte meine Schwester gesorgt). Irgendwie erschien mir die Argumentation meiner Schwester einleuchtend und logisch, sogar sinnvoll. Klar, erst mal kommen alle als Mädchen auf die Welt. Später hat dann jede die freie Entscheidung über das eigene Geschlecht. Das schien in meinen Augen auch vernünftig. Je nach Zeitalter, geografischer und religiöser Zugehörigkeit der eigenen Person oder der Verwandtschaft könnte diese Wahl ja auch durchaus Vorteile haben, oder?
    Hinzu kam, dass mich meine Schwester bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Mädchen verkleidete. Kaum waren meine Eltern mal kurz aus dem Haus, zack, hatte ich einen ihrer Röcke an und mir wurden Schleifchen ins Haar gebunden. Aber gut, dachte ich, die anderen Mädchen sehen ja auch so aus, warum nicht auch ich? Ich wurde hundertprozentig weiblich sozialisiert. Wir spielten mit Puppen, kämmten uns gegenseitig die Haare und spielten Mutter, Mutter, Kind. Und wir redeten! Meine Güte, was haben wir geredet! Ich lernte schon sehr früh, tief in weibliche Kommunikationsgefilde einzutauchen. Ich war es also gewohnt, mit Mädchen zu spielen, ich redete mit den Mädchen wie ein Mädchen, ich fühlte wie ein Mädchen, und ich trug die Mädchensachen meiner Schwester. Ich war ein Mädchen … dachte ich.

Der Frauenversteher wird zum Mann
    Diese Weltanschauung wurde erst durch den Umstand erschüttert, dass ich meine frühe Kindheit Anfang der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts im vorigen Jahrtausend
verbrachte (also ziemlich genau vor einer Ewigkeit!). Zu dieser Zeit war es bei konfliktarmen Kleinfamilien der gehobenen unteren Mittelschicht im Ruhrgebiet nicht unüblich, dass jüngere Geschwister die aufgebrauchten, aber noch intakten beziehungsweise geflickten Kleidungsstücke ihrer älteren Geschwister aufzutragen hatten. Ich musste durch die Autorität meiner Eltern bedingt die alten Sachen meiner großen Schwester anziehen. Besonders schlimm war das natürlich im Winter. Ein Wort lässt mich in seiner ganzen Assoziationsbreite bis heute schaudern: Strumpfhosen! Kennen Sie diese wollenen, kratzenden Strumpfhosen?
    Welches Tier produziert absichtlich solche Wolle? Es muss sich um eine Art Racheakt dieser Tiere handeln. Haben Sie so etwas jemals tragen müssen? Da meine Schwester diese Dinger schon vor mir ein paar Jahre ertragen musste, waren einige davon zerschlissen, was meine Mutter dazu motivierte, die Löcher zu stopfen. Es handelte sich also oftmals um ein gestopftes, geflicktes und überaus unansehnliches
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