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Frau Holle ist tot

Frau Holle ist tot

Titel: Frau Holle ist tot
Autoren: Roland Stark
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die Kiefer auseinander.
Irgendetwas knackte. Immer schön vorsichtig sein, ermahnte er sich. Dann
leuchtete er in die Mundhöhle. Gar nicht so einfach, die Kiefer auseinander zu
halten und die Zunge wegzudrücken. Aber er fand den Apfelgrütz nicht. Keinen
giftigen und nicht einmal sonst einen.
    Einen allerallerletzten Versuch wollte er noch
unternehmen. Vom Schreibtisch aus war der Plumps größer. Er rollte
Schneewittchen nach vorn und ließ es auf die Holzdielen fallen. Das war
wirklich ein großer Plumps. Aber das Mädchen hielt die Augen geschlossen.
    War das Mädchen am Ende gar nicht Schneewittchen?
    ***
    Die Nachbarin von Sylvia Holler wohnte in einem
kleinen Fachwerkhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ihr Haus und das
von Holler waren die beiden einzigen in der kleinen Stichstraße, die von der
Oberen Kirchstraße den Hang hinauf zum Waldrand führte. Es dauerte eine ganze
Weile, bis sie auf das Klingeln reagierte und die Haustür öffnete. Frau
Russmann war in eine graue Kittelschürze gekleidet. Sie mochte zwischen achtzig
und fünfundachtzig Jahre alt sein, war klein und hutzelig und hatte einen
Buckel. Die Gesichtszüge waren scharf geschnitten und passten nicht so recht zu
den glasigen Augen. Das weiße Haar war bis auf eine Strähne von einem karierten
Kopftuch bedeckt. Ein Rabe auf der Schulter hätte gut ins Bild gepasst, fand
Mayfeld, oder wenigstens eine schwarze Katze, die um ihre Beine strich.
    Die beiden Kommissare folgten der Alten in die Küche.
    »Die arme Frau, die arme Frau«, brabbelte Frau
Russmann vor sich hin, als Mayfeld und Winkler sich zu ihr an den groben
Küchentisch setzten.
    »Die arme Frau! Wollen Sie was zu trinken?«
    Winkler und Mayfeld schüttelten beide den Kopf.
    »Im Fernsehen sagen die Kommissare, dass sie im Dienst
nicht trinken dürfen. Gilt das auch bei uns im Rheingau? Na ja, ich brauch
jedenfalls ein Schlückchen.«
    Die Alte stand, ohne auf eine Antwort zu warten, auf,
holte aus dem Kühlschrank eine Literflasche mit Weißwein und stellte sie
zusammen mit drei Gläsern vor sich auf den Tisch. Nachdem sie die Gläser
gefüllt hatte, schob sie den beiden Beamten jeweils ein Glas hin und nahm aus
dem dritten einen großen Schluck. Mayfeld schaute auf die Uhr. Entschieden zu
früh für Wein, fand er. Aber das sah hier in der Gegend nicht jeder so.
    »Die arme Frau, die arme Frau«, jammerte Frau Russmann
weiter.
    »Es war bestimmt ein großer Schock für Sie, die Tote
zu entdecken.« Winkler versuchte, das Gespräch mit einer einfühlsamen Eröffnung
einzuleiten.
    »Die arme Frau, die arme Frau«, antwortete Frau
Russmann, leerte das Glas und schenkte sich neu ein. Man hätte die alte Frau
nach dem Schock nicht allein lassen sollen, dachte Mayfeld. Wenn sie so
weitermachte, wäre sie betrunken, bevor sie mit ihrer Befragung zu Ende waren.
    »So eine arme Frau. Und dabei so eine gute Frau. Auch
wenn sie etwas eigen war, die Frau Dr. Holler. Eine gute Frau!«
    »Sie sollten übers Wochenende die Katze Ihrer
Nachbarin füttern?« Mayfeld hoffte, mit konkreten Fragen bei Frau Russmann
weiterzukommen.
    Sie schien irgendeinem Gedanken nachzusinnen und
schwieg eine ganze Weile. »Die arme Katze! Wer kümmert sich denn jetzt um sie?
Sie ist Frau Holler erst vor drei Jahren zugelaufen, eine schwarze Katze mit
weißen Pfoten. Natürlich hat die Frau Doktor sie aufgenommen, sie war ja so
eine gute Frau!« Tränen liefen über die faltigen Wangen der Alten und tropften
ins Weinglas.
    »Wo wollte sie denn hin?«
    »Die Katze? Ich weiß es doch auch nicht!
Wahrscheinlich in den Wald, dorthin, woher sie vor drei Jahren gekommen ist!«
    »Ich meinte Frau Dr. Holler«, präzisierte Mayfeld
seine Frage.
    Frau Russmann nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas.
»Hält Leib und Seele zusammen«, behauptete sie mit einem tapferen Lächeln.
»Wohin die Frau Doktor wollte, das weiß ich nicht so genau, ich meine, sie hat
was von einem Treffen mit Kollegen in Berlin gesagt, wo sie jedes Jahr
hinfährt. Am Samstag wollte sie morgens weg, da konnte sie den Kater noch
füttern. Er bekommt nur morgens Dosenfutter, abends holt er sich Mäuse aus dem
Wald. Am Sonntag sollte ich ihm Futter geben, und montags wollte sie wieder
zurück sein, weil doch all die kranken Kinder zu ihr kommen, die Zappelphilippe
und die verstörten Mädchen. So hat sie sie genannt. Die armen Kinder! Wer soll
sich denn jetzt um sie kümmern? Das mit der Katze, das kann ich ja übernehmen,
aber wer kümmert sich
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