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Franzosenliebchen

Franzosenliebchen

Titel: Franzosenliebchen
Autoren: Jan Zweyer
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etwas zu erwärmen, und ging zum
Schrank, um sich anzuziehen. Lange brauchte er nicht, sich zu
entscheiden. Seine Sonntagskleidung bestand aus einer ziemlich
extravaganten, mittelgrauen Oxfordhose, deren Erwerb er sich im
letzten Herbst im wahrsten Sinne des Wortes vom Munde abgespart
hatte, und einem farbig dazu passenden, eng geschnittenen Sakko.
Darunter trug er im Winter üblicherweise einen grauen
Pullover, ein weißes Hemd mit weichem Kragen und eine breite,
grob gemusterte Krawatte. Diese hatten ihm im letzten Jahr
ehemalige Kameraden des Freikorps zum Geburtstag geschenkt.
Ansonsten bestand seine gesamte weitere Garderobe noch aus zwei
groben, dunklen Stoffhosen, einem schwarzen, schon recht
verschlissenen Überrock sowie einigen Hemden und Pullovern.
Gegen die Kälte schützten ihn ein schwarzer, langer
Mantel mit tief gezogenem Revers und seine Wolljacke. Zwei Paar
Schuhe nannte er sein Eigen, beide schon ausgetreten und mit fast
durchgelaufenen Sohlen. Einen Dandy konnte man Peter Goldstein also
trotz der Knickerbockers nun nicht gerade nennen. 
    Fünf Minuten
später kehrte er angekleidet in die Wohnküche
zurück, warf einen Blick in den Ofen und schüttete eine
weitere Lage Kohlen hinein. Das würde bis zu seiner
Rückkehr reichen, hoffte er. Noch einmal betrachtete er
sich im
Spiegel. Er sah einen schlanken, etwa ein Meter achtzig
großen Mann mit dunkelblondem, lockigem Haar.
Einigermaßen zufrieden verließ er seine
Behausung.
    *
    Mit quietschenden
Rädern zwängte sich die Elektrische in die letzte
Kurve.
    »Nächster
Halt«, rief der Schaffner in den an diesem Sonntagmorgen nur
spärlich besetzten Waggon, »ist Potsdamer
Platz.«
    Peter Goldstein erhob
sich von seinem Sitz und ging zur hinteren Plattform. Bremsen
kreischten. Die Straßenbahn verlangsamte ihre Fahrt und hielt
mit einem Ruck an.   
    »Potsdamer
Platz. Zum Umsteigen in die Linien …«
    Den Rest der Ansage
hörte er schon nicht mehr. Goldstein schloss den obersten
Knopf seiner Jacke, zog den Schal fester und sprang auf die
Straße, kaum dass die Straßenbahn zum Stehen gekommen
war. Es hatte zu schneien begonnen. Die Kälte kroch bis unter
die Haut. Eilig überquerte er die Straße und ging zum
Zeitungskiosk an der Südseite des Platzes, bei dem er sich
jeden Sonntag seine Lektüre besorgte. Natürlich schrien
ihm die Schlagzeilen auch heute die Nachrichten von der Besetzung
des Ruhrgebiets durch französische Truppen
entgegen.      
    »Na, wieder die
Presse des Erzfeindes kaufen?«, berlinerte Hans, der
Zeitungsverkäufer, zur Begrüßung.
    Goldstein nickte.
»Und die Frankfurter Zeitung von gestern, wenn Sie noch eine
haben.« Zwar waren ihm die Ansichten dieses Blatt häufig
zu liberal, aber als überregionale Tageszeitung vermittelte
sie eine Gesamtschau der deutschen und internationalen Politik, die
die Berliner Presseerzeugnisse in der Regel nicht boten.
    »Natürlich.
Ich habe eine für Sie zurückgelegt.«
    Goldstein nickte
dankend und zahlte. Dann machte er sich auf, um in seinem Stammcafe
nicht weit vom Potsdamer Platz entfernt zu frühstücken
und in Ruhe zu lesen.
    Goldstein genoss diese
Sonntage. Zwar reichte sein Gehalt als beamteter Kriminalassistent
bei der erst vor wenigen Monaten gegründeten
Landeskriminalpolizeistelle Berlin-Mitte eigentlich nicht aus, um
sich Woche für Woche einen solchen Luxus zu gönnen. Aber
lieber ließ er das Mittagessen ausfallen, als auf frische
Schrippen mit Käse, ein gekochtes Ei, süßen
Milchkaffee und die Lektüre vor allem der Zeitung Le Petit
Parisien zu verzichten. Zweisprachig im Elsass aufgewachsen, war
das Studium dieses Blattes für ihn die einzige Gelegenheit,
seine Französischkenntnisse nicht einrosten zu
lassen.
    Die Sichtweise der
Franzosen über die Situation in den besetzten Gebieten blieb
ihm fremd. Wie konnten die französischen Journalisten
lediglich von einer Entsendung von rund sechzig Ingenieuren und
Wirtschaftsexperten in das Ruhrgebiet schreiben? Nur wenige Truppen
seien zum Schutz dieser Inspektoren abkommandiert worden. In
Wahrheit kontrollierten mittlerweile über einhunderttausend
Soldaten die Region! Und wozu die Tanks und das andere schwere
Gerät?
    Natürlich hatte
Goldstein als Frontsoldat gesehen, welche Zerstörung der
Weltkrieg in Frankreich und in Belgien angerichtet hatte. Aber mein
Gott, das war Krieg gewesen. Ein Krieg, der dem deutschen Vaterland
aufgezwungen worden war. Selbstverständlich war Deutschland
seit dem Vertrag von
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