Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frag die Toten

Frag die Toten

Titel: Frag die Toten
Autoren: Linwood Barclay
Vom Netzwerk:
ganz leicht senkte. Wahrscheinlich nur ein paar Zentimeter. Das war einleuchtend. Vorn war der Wagen am schwersten, dort befand sich der Motor.
    Sie musste raus. Wenn das Eis etwas so Schweres wie einen Personenwagen tragen konnte, bis jetzt zumindest, dann würde es doch wohl auch sie tragen – vorausgesetzt, sie schaffte es, aus dem Wagen zu kommen. Dann könnte sie losmarschieren, auf das nächstgelegene Ufer zu.
    Vorausgesetzt, sie konnte überhaupt laufen.
    Sie berührte ihren Bauch. Alles war warm. Und nass. Wie viele Stiche hatte sie abgekriegt? Jemand hatte doch auf sie eingestochen, nicht wahr? Sie erinnerte sich an das Messer. Das Licht, das von der Klinge reflektiert wurde. Und dann –
    Zwei Stiche. Dessen war sie sich ziemlich sicher. Sie erinnerte sich, wie sie hinuntergesehen hatte, ungläubig mit angesehen hatte, wie das Messer zum ersten Mal in sie eingedrungen war, wie es wieder herauskam, die Klinge blutrot. Doch schon im nächsten Augenblick durchstieß es ihre Haut ein zweites Mal.
    Danach wurde alles schwarz.
    Tot.
    Doch sie war nicht tot.
    Wahrscheinlich war ihr Puls so schwach gewesen, dass er nicht zu fühlen war, als man sie in ihr Auto setzte, anschnallte und mitten auf diesen See hinausfuhr. Zweifellos darauf spekulierend, dass der Wagen bald einbrechen und auf den Grund des Sees sinken würde.
    Einen Wagen mit einer Leiche darin in Ufernähe zu versenken war zu riskant. Der blieb möglicherweise nicht unentdeckt.
    Doch ein Wagen, der weit draußen auf einem See versank? Wer sollte
den
schon finden?
    Sie musste die Kraft aufbringen. Sie musste aus diesem Wagen heraus. Und zwar sofort. Ehe er ganz einbrach. Hatte sie ihr Handy dabei? Wenn sie Hilfe herbeirufen konnte, dann würde man ihr vielleicht auf dem Eis entgegenkommen, sie würde nicht bis zum Ufer zurück –
    Knacks
.
    Der Wagen neigte sich vorwärts. So wie er jetzt da hing, sah sie durch die Windschutzscheibe keine Uferlinie mehr, sondern nur mehr schneebestäubtes Eis. Der Mond schien hell genug, dass sie sich im Wageninneren umsehen konnte. Wo war ihre Handtasche? Sie musste ihre Handtasche finden. In der Handtasche war ihr Handy.
    Da war keine Handtasche.
    Keine Möglichkeit, Hilfe herbeizurufen. Keine Möglichkeit, jemanden zu bitten, sie zu retten. Sie musste also unbedingt aus diesem Wagen heraus.
    Sofort.
    Sie tastete nach dem Knopf, mit dem sie den Sicherheitsgurt öffnen konnte, fand ihn und drückte mit dem Daumen fest darauf. Beim Einziehen verfing der Gurt sich kurz an ihrem Arm. Sie schüttelte ihn ab, und er glitt vollständig in den Holm zwischen der vorderen und der hinteren Tür zurück.
    Knacks.
    Sie streckte die Hand nach dem Türöffner aus und zog daran. Die Tür öffnete sich nur einen Spaltbreit. Weit genug allerdings, um eiskaltes Wasser hereinzulassen, das jetzt ihre Füße umspülte.
    »Nein, nein«, flüsterte sie.
    So kalt. So schrecklich, schrecklich kalt.
    Je mehr Wasser eindrang, desto mehr neigte sich der Wagen. Die Richtung, die er nehmen würde, war erschreckend eindeutig. Ihre Welt war am Versinken. Anfangs stützte sie sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab. Dann drückte sie mit der rechten gegen die Beifahrertür, doch die klemmte. Das Eis blockierte die untere Vorderkante.
    »Nein. Bitte.«
    Das letzte Knacken, das sie hörte, war das lauteste, wie Donnerschlag hallte es über den See.
    Die Schnauze des Wagens sackte ab. Noch mehr Wasser strömte herein. In Sekundenschnelle bedeckte es ihre Knie. Dann reichte es ihr bis zur Taille. Die Windschutzscheibe wurde schwarz.
    Gleich darauf stand ihr das Wasser bis zum Hals.
    Der stechende Schmerz dort, wo das Messer zweimal in sie eingedrungen war, ließ nach. Gefühllosigkeit breitete sich in ihrem Körper aus.
    Alles wurde ganz schwarz, ganz kalt und dann seltsamerweise ganz ruhig.
    Ihre letzten Gedanken galten ihrer Tochter und dem Enkelkind, das sie niemals sehen würde.
    »Melissa«, flüsterte sie.
    Dann war der Wagen verschwunden.

[home]
    Drei
    E igentlich arbeitete Keisha allein.
    Gut, manchmal stand ihr Freund Kirk abrufbereit, um bei Bedarf ans Telefon zu gehen und einem skeptischen potenziellen Klienten gegenüber Zeugnis abzulegen. Doch davon abgesehen, machte sie lieber ihr eigenes Ding. Nur wenn man auch die Details selbst in die Hand nahm, behielt man die Kontrolle.
    Da jemand anderen ins Boot zu holen, insbesondere jemanden ohne besondere Erfahrung, war riskant. Doch in letzter Zeit war nicht viel Geld hereingekommen. Kirk
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher