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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen
Autoren: Philipp Hübl
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zu überschreiten. Lazarus’ Theorie ist innovativ und passt zu der Beobachtung, dass Gefühle unser Verhalten steuern, auch wenn er selbst die Kernthemen nicht immer genau trifft. Ein Beispiel: Beleidigungen als Auslöser unseres Ärgers sind zu speziell, denn wir ärgern uns auch, wenn der Computer abstürzt. Das Kernthema des Ärgers ist eher: Etwas hindert uns, unser Ziel zu erreichen.
    Vor allem bleibt offen, warum wir überhaupt Körpererlebnisse brauchen, wenn die Kernthemen allein ausreichen würden. Es scheint, als hätten sowohl die Körper- als auch die Gedankentheorien Lücken. Haben beide nur zur Hälfte recht? Die Wahrheit liegt in großen Debatten zwar selten in der Mitte, aber oft in einer geschickten Kombination von Gegensätzen. Hier kommen die Mischtheorien ins Spiel. Sie fassen Gefühle als Bündel von Elementen auf.

Gemischte Gefühle
    Der kleine Max ist wütend. Anton hat ihm sein Feuerwehrauto weggenommen. Max schreit. Er trommelt mit seinen kleinen Fäusten in den Sand. Dann geht er mit hochrotem Kopf auf Anton los und schubst ihn weg. Max spürt eine Wut in sich, sie bezieht sich auf Anton, bewertet ihn als Störenfried, drückt sich in seinen aufeinandergepressten Lippen aus und führt dazu, dass Max kämpfen will. All diese Elemente scheinen zur Wut zu gehören. Daher muss man sich vielleicht gar nicht auf ein spezielles festlegen. Der israelische Philosoph Aaron Ben-Ze’ev vertritt ebendiese These: Gefühle sind durch ein Bündel von Merkmalen charakterisiert. Typische Gefühle wie Wut oder Angst mögen alles haben: Bezug, Bewertung, Erleben, Ausdruck und Verhaltenssteuerung. Aber manchen Gefühlen mag der Bezug fehlen, wie der guten Laune, anderen das Erleben, wie den unbewussten Gefühlen, oder ein typischer Gesichtsausdruck, wie vielleicht der Eifersucht. Der Fehler der klassischen Theorien sei, dass sie an genau einem Merkmal festhalten, an dem man Gefühle erkennen muss. Laut Ben-Ze’ev liegt darin gerade die Stärke seines eigenen Ansatzes: Er spiegelt die Vielfalt unserer Erlebnisse wider. Aus philosophischer Sicht ist diese pluralistische Lösung aber unbefriedigend, denn einige Fragen bleiben offen: Welche Funktion hat jedes einzelne Element? Und wie hängen Erleben und Bewertung zusammen?
     
    Eine Antwort auf diese Fragen gibt Jesse Prinz mit seiner Theorie der
verkörperten Bewertungen
. Laut Prinz sind Gefühle Wahrnehmungen von Körperveränderungen, allerdings repräsentieren sie gerade dadurch Kernthemen wie Gefahr oder Verlust, und zwar, indem sie diese Kernthemen verlässlich anzeigen. Das Körpererleben eines Gefühls ist so etwas wie ein Hinweisschild. Das Schild für absolutes Halteverbot ist zum Beispiel einfach aufgebaut: roter Kreis, rotes Kreuz, blauer Hintergrund. Dieses Zeichen steht aber für einen komplexen Inhalt: «Hier darf man weder parken noch kurz halten, es sei denn verkehrsbedingt oder im Notfall.» Für viele sagt es auch noch: «Werde ich erwischt, bekomme ich einen Strafzettel.» Prinz zufolge sind Gefühle wie Straßenschilder. Das Herzklopfen und die Aufregung der Angst stehen für eine Gefahr und vermitteln uns so eine komplexe Information, obwohl sie nicht wörtlich sagen: «Da ist eine Gefahr. Ich sollte sie besser vermeiden, sonst riskiere ich Kopf und Kragen.»
    Prinz führt beide Denktraditionen zusammen. Wie James und Damasio nimmt er an, dass Gefühle erlebte oder wahrgenommene Körperveränderungen sind. Wie Nussbaum und Lazarus glaubt er, dass Gefühle uns über unsere Umwelt informieren und eine Funktion in unserer Lebensführung haben. Prinz’ Lösung ist verblüffend einfach: Über Gefühle als körperliche Erlebnisse erhalten wir automatische Bewertungen über unsere Umwelt – ein bisschen so, als würde unser Körper zu uns sagen: «Achtung, Gefahr!», ohne dass wir selbst den Gedanken fassen müssen.
    Auf den ersten Blick scheint es, als stellten Fehleinschätzungen ein Problem für diesen Ansatz dar. Was ist, wenn man sich vor Mäusen fürchtet, obwohl sie harmlos sind, und was, wenn umgekehrt der Container mit radioaktivem Abfall keine Regung in uns auslöst, obwohl er gefährlich ist? Darauf hat Prinz eine einfache Antwort: Jede Theorie muss solche Fälle zulassen, denn sie treten tatsächlich auf. Um im Bild zu bleiben: Jedes Halteverbotsschild kann auch falsch aufgestellt sein oder dort fehlen, wo es gefordert wäre. Und wir können die Schilder auch übersehen. Manchmal führen uns Gefühle in die Irre, und manchmal
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