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Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition)
Autoren: Martin Auer
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hielt seine Knie umschlungen und starrte in eine unbestimmbare Ferne. „Miheto hat der alte Mann geheißen, der mich aufgenommen hat. Ich war innerlich versteinert von all dem, was ich erlebt hatte, ich hätte ihn vielleicht erschlagen, um mir seine Essensvorräte nehmen zu können, und hätte es im nächsten Moment vergessen. Aber er hat mir Essen angeboten, und so musste ich mir nicht die Mühe machen. Die BaTwa hatten ein paar Hütten außerhalb eines Dorfes. Das Dorf war verlassen, die Bewohner waren geflohen oder getötet worden, ich wusste es nicht. Die meisten Hütten waren Gestelle aus Stämmen und Ästen, an die die Leute Plastikplanen gebunden hatten. Nur einige Hütten waren aus Lehm und hatten Dächer aus Gras. Die Männer saßen apathisch herum, meistens betrunken von Bananenbier. Die Frauen holten Essbares von den Feldern und Bananenbäumen der geflohenen oder getöteten Dorfbewohner. Es gab weit und breit niemand, für den sie hätten arbeiten können, niemand, dem sie Töpfe verkaufen konnten, niemand, bei dem sie hätten betteln können. Miheto war ein alter Griesgram und Sonderling. Meistens trug er blaue Shorts, ein altes Sportsakko und eine speckige Baseballmütze. Er murmelte und fluchte ständig vor sich hin. Nur, wenn er draußen die betrunkenen Männer herumsitzen sah, dann wurde er laut und fing an zu schimpfen und zu predigen. Alle paar Tage verschwand er im Wald und kam immer mit irgend einer Beute zurück, einem Äffchen oder einer kleinen Waldantilope. Dann beschimpfte er die Betrunkenen besonders heftig. ‚Schaut her, man kann immer noch leben wie ein Mensch. Da schaut, ihr stupiden Säufer! Habt ihr Mitleid mit euren hungrigen Kindern? Nur mit euch selber habt ihr Mitleid! Geht in den Busch, holt wenigstens ein Stück Fleisch heim, ihr verfaulten Schwänze!’ Mit mir kommandierte er herum: ‚Mach die Hütte sauber! Feg den Hof! Hol Wasser!’ Ich tat alles, was er mir sagte, mechanisch, ohne nachzudenken. Wenn er Essen gekocht hatte, sagte er: ‚Setz dich her! Iss!’ Und dann wieder: ‚Mach die Schüsseln sauber! Wirf die Knochen hinaus!’ Aber dann, eines Abends, aus dem Gekeppel und Gefluche über die schlechten Zeiten heraus fing er an, von früher zu erzählen, vom Leben im Wald, von der Jagd, von den Lagerplätzen. Von jedem Lagerplatz erzählte er, was es dort zu essen gab, welche Pilze, welche Heilkräuter, welche Nüsse, Beeren, Wurzeln, auf welche Bäume er geklettert war, um wilden Honig zu holen, oder die Rinde für einen speziellen Tee, wenn seine Frau gebären sollte. Er erzählte, wie sie eine Brücke über einen krokodilverseuchten Fluss gebaut hatten. Er war auf den höchsten Baum geklettert, der sich über den Fluss neigte, hatte ganz oben im Wipfel ein Seil aus Lianen befestigt an dem unten zwei Schlaufen befestigt waren, in die er sich dann setzte. Die übrigen Männer mussten ihn nach hinten ziehen und dann loslassen, so dass er über den Fluss schwingen und das eine Ende eines Lianenseils hinüberbringen konnte. Erst beim dritten Versuch klappte es. Wenn das Seil, an dem er hing, gerissen wäre, hätten die Krokodile ein schönes Mittagessen gehabt. Er erzählte von seinen Jagderfolgen und von den Treibjagden mit Netzen, bei denen sie Fleisch für viele Tage erbeutet hätten. Aber auch, wenn ein einzelner Jäger Glück hatte, teilte er seine Beute mit allen. Und er erzählte, dass die BaTwa keinen Krieg kannten, bevor sie mit den Leuten von außerhalb des Waldes in Berührung kamen. Er erzählte vom Wald, der sie alle behütete und beschützte und ernährte. Und wenn er vom Wald sprach, da war er wie ein Kind, das von seiner Mutter spricht, da war er kein grantiger Grobian mehr, da spürte ich eine so quälende Liebe und Sehnsucht in seinen geflüsterten Worten, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen, zum ersten Mal, seit das Morden begonnen hatte. Aber seine Erzählungen waren gar nicht für mich bestimmt, er redete sich mit seinen Geschichten in den Schlaf, er redete sich zurück in die Vergangenheit, um seiner Trostlosigkeit zu entkommen. Wenn ich ihn nach etwas fragte oder ihn bat, zu erzählen, schüttelte er nur mürrisch den Kopf und trug mir irgend eine Arbeit auf. Er war in Wirklichkeit genau so traumatisiert wie ich und wie die Säufer da draußen. Nur hatte er seine eigene Droge, die Erinnerung.“
    Die kleine Gruppe in dem kahlen Raum überließ Patrice seinen Gedanken. Juvénal war der erste, der wieder sprach: „Was ist mit dem alten Mann
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