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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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wenn einer ein Buch schreiben will, kann er aufhören zu arbeiten, und die anderen bezahlen ihm einen einjährigen Arbeitsurlaub. Wenn jeder fünfzig Mark gibt, hat er ein Mordsstipendium. Dafür hütet er manchmal die Kinder. Und wenn sein Buch fertig ist, kann er vorn reinschreiben, daß er uns allen dankt. Wenn keiner es drucken will, ist es auch nicht schlimm, dann liest er es den andern vor.
    Heute hätte ich mein Schild auf die grüne Seite gedreht.

    Die weiße Wintersonne, abgeblendet durch ungeputzte Fensterscheiben, fängt sich im Kaffeelöffel. Ich starre in die eingefangene Sonne, spiele mit ihr, indem ich den Löffel hin und her schaukele, spanne dann ein weißes Blatt Papier in die Maschine, blicke abwechselnd auf Sonne und Papier, suche den ersten Satz über B. Auf dem runden Tisch vor mir Tabellen und Analysen über Staubemissionen, meine Notizen, Zeitungsausschnitte, ungeordnet, über- und untereinander, daneben die Kaffeetasse, sanfter Übergang vom Frühstück zur Arbeit. Um Himmels willen keinen Schreibtisch, keine viereckigen Abmessungen vor mir, keine geordneten Bleistife und Schnellhefter.
    Ein leeres weißes Blatt, voller Möglichkeiten, Vorsätze, Selbstverpflichtungen: Diesmal wird es ganz anders als bisher, alte Fehler werden vermieden, wohl wissend: es werden neue Fehler sein. Aber noch besteht die Chance, die Klippen heil zu passieren. Noch sind die Hindernisse nicht in Sicht. Noch liegt B. als spiegelglattes Wasser von Fakten und Erlebnissen vor mir.
    Ich sitze mit angezogenen Beinen in dem großen, alten, harten Sessel, sehe auf den Ahornbaum vor dem Fenster, lasse das Bild unscharf werden, stelle mir den Weg vom Bahnhof in B. zum Kombinat vor, meinen ersten Schreck über diese Stadt, denke an Alfred Thal, der gesagt hat: »B. ist die schmutzigste Stadt Europas.« Das wäre der erste Satz, so müßte ich anfangen. Aber das würde selbst Luise streichen. Die dreckigste europäische Stadt ausgerechnet in einem sozialistischen Land. Wenn wir uns schon die traurige Tatsache leisten, so wenigstens nicht ihre öffentliche Bekanntmachung. Mögliche Variante: B. ist eine schmutzige Stadt. Quatsch, das ist nichts, das weiß jeder.
    Wenn schon nicht die ganze Wahrheit, dann wenigstens einen schönen Satz. Also: In B. steigt nur aus, wer hier aussteigen muß, wer hier wohnt oder arbeitet oder sonst hier zu tun hat. – Das ist mein erster Satz. Ich bin zufrieden.
    Der Himmel. Welches Gefühl war das, als ich ihn auf mich niedersinken ließ, den gelbgrauen giftigen Nebel in mein Bewußtsein aufnahm, die hochgemauerten Öffnungen abzählte, aus denen er zusammenfloß, um dann wie ein Dach über der Stadt zu hängen? Bestürzt war ich oder entsetzt, Angst hatte ich bei dem Gedanken an das viele Gift. In B. habe ich weniger geraucht. Angst scheidet aus. Wir schreiben nicht, um die Leute zu ängstigen, auch nicht, um sie zu entsetzen. Bestürzung – noch zu viel. Betroffen, das geht. »Fremde sehen betroffen in den Himmel über der Stadt …« usw.
    Nach einer Stunde habe ich zwei Sätze geschrieben. Mühsam geht das. Zu mühsam. Ich suche ein Wort, das Wort, das treffende, einzige. Um es zu verwerfen, sobald ich es gefunden habe, es auszutauschen gegen seine mildere Variante, nicht zu milde, die nächstliegende Nuance, aber druckbar. Nichtdruckbares wird nicht zu Ende gedacht. Es ist nur ein kurzer Weg von undruckbar zu undenkbar, sobald man sich darauf eingelassen hat, die Wirklichkeit an diesem Maß zu messen; dazwischen liegt nur unaussprechlich. Ich habe mir fast schon abgewöhnt, öffentlich über Alternativen zu reden, Gedanken auszusprechen, deren Undruckbarkeit ich ermessen kann. Wozu auch? Ich weiß vorher, was man mir antworten würde, und es hängt mir zum Halse raus: Damit lieferst du dem Gegner die Argumente. Du kannst alles schreiben, wenn du es nur richtig einordnest. Und wenn ich es richtig eingeordnet habe, dann hat alles seine unantastbare Ordnung, und nichts kann anders sein, als es ist. Und immer wieder dieses Duhastjarecht, Mädchen, aber wir konnten noch nicht … es gab Wichtigeres … glaubst du, wir kennen die Probleme nicht? Diese Genossen »Wir«. Gegen mein klägliches »Ich habe gesehn« stellen sie ihr unerschütterliches »Wir«, und schon bin ich der Querulant, der Einzelgänger, der gegen den Strom schwimmt, unbelehrbar, arrogant, selbstherrlich. Sie verschanzen sich hinter ihrem »Wir«, machen sich unsichtbar, unangreifbar. Aber wehe, ich gehe auf ihre
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