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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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hoch. Dann zieht er weiter an der Decke, die längst glatt und ordentlich auf dem Sofa liegt.
    »Sei froh, daß du ein Bett hast. Hühner schlafen nämlich auf der Stange.«
    »Ich bin aber ein totes Huhn, ohne Flügel zum Wärmen.«
    »Tote Hühner frieren nicht.«
    Ich drehe mich zur Wand. Er hat recht. Seit einem Milchautomorgen vor hundert Jahren sind wir füreinander geschlechtslos. Daran ändern auch Außentemperaturen nichts.
    Und dann fließt ein warmer Strom von meiner rechten Schulter in Arm und Hals. Christian liegt neben mir, und mich überfällt eine lähmende Angst. Das ist nicht mehr Christian, das ist ein Mann, fremd wie andere. Gleich werden seine Hände prüfend über Haut und Fleisch fahren, ob sie den allgemeinen Ansprüchen auch standhalten, wird er auf Höhepunkte warten und wird, bleiben sie aus, das Prädikat frigide oder anorgastisch registrieren. Von mir bleibt nichts als das Stück Frau, das unter der Decke liegt, verkrampft vor Kälte und Anspannung.
    Christian zündet eine Zigarette an, steckt sie mir in den Mund, schiebt seinen Arm unter meinen Hals, lacht still vor sich hin.
    »So ähnlich hast du ausgesehn, wenn du in Mathe an die Tafel mußtest.«
    Schon möglich. Das schneidende Gefühl im Magen, wenn mein Name aufgerufen wurde, die vor Aufregung blauen Hände auf dem Rücken, Blessins genüßliche Stimme: »Na, Fräulein Nadler, immer noch nicht der Groschen gefallen?«, in meinem Kopf nichts außer einem schmerzhaften Druck. Wenn ich mich setzte, hatte ich an beiden Daumennägeln die Haut weggerissen, daß sie bluteten. Aber ich stehe nicht an der Tafel. Ich müßte nur die Hand ausstrecken und Christians warme Haut berühren. Ich müßte nicht einmal tun, was ich nicht will. Statt dessen fühle ich mich mißbraucht, bevor ich angerührt wurde.
    Durch das angelehnte Fenster klingen die monotonen Stimmen Betrunkener, die Kneipe an der Ecke schließt. »Zieh dein Hosenbein hoch, du«, lallt jemand, »ich hab gesagt, du sollst dein Hosenbein hochziehen, damit ich dich anpissen kann.«
    Wir lachen, wohl lauter, als die Sache verdient, und ich strecke meinen Arm aus. Bei Robert Merle habe ich gelesen, daß die Haitier spielen nennen, wozu wir miteinander schlafen sagen. Spielen ist schöner. Es erinnert an Wiese und Blumen, an Spaß und Lachen, nicht an stickige Schlafzimmer, sentimentale Schwüre oder müden Griff neben sich kurz vor dem Einschlafen. Komm, Christian, wir spielen, vergessen B. und Blessin, und auch dich, Luise. Nicht Leben denken, Leben fühlen, bis zum Schmerz, bis zur Erschöpfung, alle Gedanken wegfühlen, nur Bein und Bauch und Mund und Haut sein.

    Der Friseur zieht gerade seine Jalousie hoch, steht als frisiertes Vorbild im Türrahmen mit Animierlächeln unter dem blonden Bärtchen. Nein, nein, ich bin kein Kunde. Ich lächle auch, statt meinen Kopf hinzuhalten. Diesiges, sonniges Gelb hängt in der Luft, müder Wind schaukelt welke Blätter an den Bäumen und die Bommeln der Platanen. Der Weltuntergang hat nicht stattgefunden, oder ich habe ihn verschlafen. Soll die Straßenbahn abfahren, ich laufe. Auf der Promenade zwischen Kirche und Rathaus ist Markt. Dicke, angepummelte Frauen mit roten Händen stehen in den Buden, treten von einem Bein aufs andere. Vor der Kirche wartet eine weiße Kutsche, vor dem Rathaus ein blumengeschmücktes Taxi; es wird geheiratet. »Prima Fisch, feiner Fisch«, ruft es. Und: »Meine Dame, Sie haben Hühneraugen, det seh ick von hier. Kommse her.« Eine Wolke verschiedener Gerüche schwebt über dem Platz, Orangen, Fisch, Gewürze, Currywurst und Blumen, alles ganz nah, auch die vielen Leute, die einander drängen und beiseite schieben, um Stoffe zu befühlen und Äpfel zu prüfen. Gerade über die Straße ist der Gemüsekonsum, fast leer. Nur auf dem Markt gibt es zu riechen und zu fühlen und zu wählen. Anschließend geht man in die Apotheke an der Ecke, versorgt sich für eine Woche mit Tabletten aller Art. An Markttagen ist die Apotheke immer überfüllt. Ich kaufe drei Sträuße von den letzten Herbstastern, violett, weiß und gelb.
    Der Pappstreifen an meiner Tür ist wieder einmal zerrissen, diese Gören. Josefa links, Nadler rechts, jeder Namensteil hängt an einer Reißzwecke. Das Bild verführt zu symbolischen Deutungen. Aber heute nichts davon, heute stehen niedere Arbeiten auf dem Programm. Und am Montag rufe ich endlich den Klempner an. »Du hast so viele Freunde«, sagt Tante Ida immer, »und trotzdem ist bei dir alles
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