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Flug 2039

Flug 2039

Titel: Flug 2039
Autoren: Chuck Palahniuk
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in der Küche die Sachen, die ich mitnehmen durfte. Wo mein Vater war, weiß ich nicht. Ich sollte keinen von ihnen jemals wiedersehen.
    Es ist komisch, aber ich werde immer wieder gefragt, ob sie geweint hat. Man fragt mich, ob mein Vater mich weinend in die Arme geschlossen hat, als ich gegangen bin. Und immer staunt man, wenn ich sage: Nein, niemand hat geweint, niemand hat mich in die Arme genommen.
    Es hat auch niemand geweint oder dergleichen, wenn wir ein Schwein verkauft haben. Niemand hat geweint, wenn wir ein Huhn geschlachtet oder einen Apfel gepflückt haben.
    Niemand hat nachts wach gelegen und sich gefragt, ob der Weizen auf unseren Feldern wirklich Glück und Erfüllung darüber empfinde, dass er zu Brot gemacht wurde.
    Nein, mein Bruder schnitt mir bloß die Haare. Meine Mutter war gerade mit dem Bügeln fertig und hatte sich zum Nähen hingesetzt. Sie war schwanger. In meiner Erinnerung war sie immer schwanger, und meine Schwestern saßen alle um sie herum, ihre Röcke auf den Küchenbänken oder dem Fußboden ausgebreitet, und sie alle nähten.
    Immer werde ich gefragt, ob ich Angst hatte oder aufgeregt war oder so was.
    Nach den Grundsätzen der Lehre unserer Kirche darf nur der erstgeborene Sohn, Adam, in der Kolonie heiraten und alt werden. Wir anderen – also meine sieben Brüder und fünf Schwestern – mussten alle, sobald wir siebzehn wurden, zum Arbeiten fortziehen. Mein Vater lebt dort, weil er der erstgeborene Sohn seiner Familie gewesen war. Meine Mutter lebt dort, weil die Kirchenältesten sie für meinen Vater bestimmt hatten.
    Die Leute sind immer sehr enttäuscht, wenn ich ihnen die Wahrheit sage: Dass keiner von uns unter dem Gefühl gelitten hat, tyrannisiert zu werden. Keiner von uns hat der Kirche etwas übel genommen. Wir haben einfach gelebt. Keiner von uns wurde allzu heftig von irgendwelchen Gefühlen gequält.
    Einen so tiefen Glauben hatten wir. Nennt es seicht, nennt es tief. Nichts konnte uns Angst machen. So fest war eben der Glaube der Menschen, die in der Kirchenkolonie aufgewachsen sind. Alles was in der Welt geschah, war eine Fügung Gottes. Eine Aufgabe, die erfüllt werden musste. Trauer oder Freude hinderten uns nur daran, nützlich zu sein. Gefühle galten als dekadent. Vorfreude oder Reue waren töricht und überflüssig. Luxus.
    So definierte sich uns Glauben. Man brauchte nichts zu wissen. Man musste mit allem rechnen.
    Da draußen, sagte Adam, hat man einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, sonst könnten Autos nicht fahren und Flugzeuge nicht am Himmel fliegen. Das Böse fließt durch Stromleitungen, um die Menschen träge zu machen. Die Leute stellen ihr Geschirr schmutzig in den Schrank zurück, und der Schrank wäscht es für sie. Wasser trägt ihren Abfall und ihre Scheiße durch Rohre davon, sodass der Unrat zum Problem anderer Leute wird. Adam fasste mich mit Daumen und Zeigefinger am Kinn, beugte sich über mich, sah mir ins Gesicht und sagte: Die Leute da draußen betrachten sich im Spiegel.
    Die Leute, die im Bus vor ihm saßen, erzählte er, hielten Spiegel in der Hand, und alle sahen eifrig nach, wie sie aussahen. Eine Schande.
    Ich erinnere mich, dass dies für lange Zeit mein letzter Haarschnitt war, ich weiß aber nicht mehr, warum. Mein Kopf war ein Stoppelfeld aus kurz geschnittenem Haar.
    Da draußen, sagte Adam, wird nur noch von Maschinen gezählt.
    Nahrung wird den Menschen nur noch von Kellnerinnen zugeführt.
    Das eine Mal, dass mein Bruder die Kolonie verließ, übernachteten er und seine Frau und der Kirchenälteste, der sie begleitete, in einem Hotel in Robinsville, Nebraska. Keiner von ihnen fand Schlaf. Am nächsten Tag brachte der Bus sie für den Rest ihres Lebens wieder nach Hause.
    Ein Hotel, erzählte er mir, ist ein großes Haus, in dem viele Menschen leben und essen und schlafen, aber keiner kennt den anderen. Er sagte, so sei es auch in den meisten Familien da draußen.
    Die Kirchen da draußen, erzählte mir mein Bruder, sind bloß Geschäfte, die den Menschen Lügen verkaufen, die in den fernen Fabriken mächtiger Religionen produziert werden.
    Er erzählte noch viel mehr, aber das meiste habe ich vergessen.
    Sechzehn Jahre sind seit diesem Haarschnitt vergangen.
    Mein Vater hatte Adam und mich und alle seine vierzehn Kinder bereits gezeugt, als er so alt war, wie ich jetzt bin.
    Ich war siebzehn Jahre alt, als ich von zu Hause fortging.
    Wie mein Vater aussah, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, so sehe jetzt ich
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